Anthroposophie und Atomismus

 

Ich halte das Phänomen des Atomismus für sehr wesentlich, weil der Atomismus sowohl die Grundlage des reduktiven, als auch des eliminativen Materialismus ist.

 

Was ist eliminativer Materialismus? Der reduktive Materialismus, eine Vorstufe des eliminativen Materialismus, hatte schon das Ziel, den Geist und das Bewusstsein des Menschen auf die physikalischen Gesetze des menschlichen Körpers zu reduzieren. Schon dem reduktiven Materialismus ist dadurch das Phänomen des menschlichen Bewusstseins, zum Beispiel das Phänomen der menschlichen Sinneswahrnehmung, ein unüberwindliches Rätsel geblieben. Der eliminative Materialismus zielt aber darüber hinaus, indem er die Existenz menschlichen Bewusstseins komplett leugnet. Mir scheint dies zwar wissenschaftlich unmöglich, weil die Verleugnung des Bewusstseins selbst schon ein Akt des Bewusstseins ist und insofern die sonstigen, aus der Selbsterfahrung des Menschen stammenden Beweise für die Existenz des Bewusstseins wesentlich mehr stärkt, als er sie zu schwächen vermag. Für solche Argumente ist aber der eliminative Materialismus nicht zugänglich, da er ja die Existens des Bewusstseins nicht anerkennt, sich also von vorneherein für die Ausübung von Wissenschaft  impotent macht. So leicht es ist, den Materialismus zu widerlegen, so schwer ist es andererseits seine Wirkung auf die Mentalität der Wissenschaftler zu neutralisieren, da man eben doch innerlich sehr aktiv sein muss, um beispielsweise die innere Welt der eigenen Gefühle zu ergründen. Und ergründet man diese Welt der Gefühle nicht, so bleibt man ungeschützt gegenüber den zerstörerischen Impulsen, die schon im 20. Jahrhundert  Millionen von Menschen ergriffen und nicht nur in den Kulturtod, sondern in das kollektive Verbrechertum gestürzt hat, und schon in naher Zukunft zum kollektiven Wahnsinn führen wird. 

 

Will man also den eliminativen Materialismus mit seinen eigenen Waffen schlagen, muss man zuerst die Fehlerhaftigkeit des Atomismus durchschauen. Dies ist mir jedoch aus handwerklichen Gründen nicht möglich, da ich nur Arzt, und nicht gelernter Philosoph bin. Ich muss es daher Rudolf Steiner überlassen:

 

Rudolf Steiner: Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe

 

(1882, aus "Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe" Nr. 63, Dornach 1978)

 

 

Die moderne Naturwissenschaft betrachtet die Erfahrung als die einzige Quelle zur Erforschung der Wahrheit. Und dies gewiss nicht mit Unrecht. Ihr Gebiet ist das Reich der äußeren räumlichen Dinge und zeitlichen Vorgänge. Wie sollte man über einen der Außenwelt angehörigen Gegenstand etwas ausmachen können, ohne ihn mittels der Sinneswahrnehmung kennengelernt zu haben. Das ist die einzige Art, mit Räumlich-Zeitlichem in Berührung zu kommen.

 

Erst das Objekt kennenlernen und dann darüber theoretisieren*, so lautet die Maxime, welche die moderne Wissenschaft gegenüber den spekulativen Systemen der Naturphilosophen vom Anfange des 19. Jahrhunderts geltend macht. Dies Prinzip ist durchaus berechtigt, aber es hat durch eine irrige Auffassung die Wissenschaft auf Abwege geführt. Das Missverständnis liegt in dem Charakter, welchen die induktive Methode und der aus

derselben fließende Materialismus und Atomismus den Allgemeinbegriffen beilegen.

 

* Vergleiche Vischer, Altes und Neues, 3. Teil, S. 51 ff.

 

Es kann für den Einsichtigen kein Zweifel sein, dass der jetzige Stand der Naturwissenschaft in ihrem theoretischen Teile wesentlich beeinflusst ist von Begriffen, wie sie durch Kant herrschend geworden sind.

Wollen wir auf dieses Verhältnis näher eingehen, so müssen wir bei ihm unsere Betrachtung anheben. Kant schränkte das Gebiet der Erkenntnis auf die Erfahrung ein, weil er in dem durch dieselbe vermittelten sinnlichen Stoff die einzige Möglichkeit fand, die in unserer geistigen Organisation liegenden, an sich ganz leeren Begriffsschemen, die Kategorien, auszufüllen. Ihm war sinnlicher Gehalt die einzige Form eines solchen. Damit hatte er das Urteil der Welt in andere Bahnen gelenkt. Hatte man früher die Begriffe und Gesetze als der Außenwelt angehörig gedacht, hatte man ihnen objektive Geltung zugeschrieben, so schienen sie jetzt bloß durch die Natur des «Ich» gegeben. Die Außenwelt galt zwar bloß als roher Stoff, doch als dasjenige, welchem allein Realität zuzuschreiben sei.

 

Diesen Standpunkt hat die induktive Wissenschaft von Kant geerbt. Auch ihr gilt die materielle Welt als das allein Reale, bei ihr sind Begriffe und Gesetze nur insofern berechtigt, als sie jene zum Inhalt haben und das Erkennen derselben vermitteln. Über dieses Reich hinausragende Begriffe betrachtet sie als unwirklich. Allgemeine Gedanken und Gesetze sind ihr bloße Abstraktionen, abgeleitet von den bei einer Reihe von Beobachtungen erfahrenen Übereinstimmungen. Sie kennt bloße subjektive Maximen, Generalisationen, aber keine ihre Geltung in sich selbst tragende, konkrete Begriffe. Dies muss beachtet werden, wenn man aus einer Menge dunkler Begriffe, die heutzutage im Umlauf sind, bis zur vollkommenen Klarheit hindurchdringen will. Man wird sich zunächst fragen müssen: was ist denn eigentlich Erfahrung, gewonnen an diesem oder jenem Objekt? In Werken über Erfahrungsphilosophie wird man vergebens nach einer sachlichen, befriedigenden Antwort auf diese gewiss berechtigte Frage suchen. Ein Objekt der Außenwelt seinem Wesen nach erkennen, kann doch unmöglich heißen, dasselbe mit den Sinnen wahrnehmen und so, wie es sich diesen darstellt, von demselben ein Konterfei entwerfen. Man wird niemals einsehen, wie von einem Sinnlichen eine korrespondierende begriffliche Photographie entstehen und welche Beziehung zwischen beiden sein könne.

 

Eine Erkenntnistheorie, die von diesem Standpunkt ausgeht, kann über die Frage nach dem Zusammenhang von Begriff und Objekt nie ins Reine kommen. Wie sollte man die Notwendigkeit einsehen, über das unmittelbar durch den Sinn Gegebene zum Begriff zu gehen, wenn in dem ersteren bereits das Wesen eines Gegenstandes der sinnlichen Welt gegeben wäre? Wozu noch das Begreifen, wenn schon das Anschauen genügt? Es wäre wenigstens der Begriff, wenn nicht eine Verfälschung, doch eine höchst unnötige Zugabe zu dem Objekt. Dazu muß man kommen, wenn man die Konkretheit der Begriffe und Gesetze leugnet. Gegenüber von solchen bildlichen Erklärungen, wie etwa auch die der Herbartschen Schule: der Begriff sei das geistige Korrelat eines außer uns befindlichen Gegenstandes, und das Erkennen bestehe in der Erlangung eines solchen Bildes, wollen wir nun nach einer Realerklärung des Erkennens suchen. Wir wollen uns hier der Aufgabe gemäß, die wir uns setzen, bloß auf das Erkennen der Außenwelt beschränken.

 

Im Akt des Erkennens kommt in diesem Fall zweierlei in Betracht: Die Betätigung des Denkens und die der Sinne. Das erstere hat es mit Begriffen und Gesetzen, die letzteren mit sinnlichen Qualitäten und Prozessen zu tun. Der Begriff und das Gesetz sind immer etwas Allgemeines, das sinnliche Objekt etwas Besonderes; die ersteren können nur gedacht, das letztere nur angeschaut werden. Die Medien, durch welche das Allgemeine uns als Besonderes erscheint, sind Raum und Zeit. Jedes besondere Ding und jeder besondere Prozess muss dem begrifflichen Inhalt der Welt eingefügt werden können, denn was an ihm nicht gesetz- und begriffsmäßig wäre, kommt für unser Denken gar nicht in Betracht. Es kann daher erkennen eines Objektes nur heißen: das, was unseren Sinnen im Raum erscheint, in die Allgemeinheit des Begriffsinhaltes der Welt einreihen, ja ganz aufgehen lassen. Im Erkennen eines räumlichzeitlichen Objektes ist uns also nichts anderes als ein Begriff oder Gesetz auf sinnenfällige Weise gegeben. Nur durch eine solche Auffassung kommt man über die eingangs erwähnte Unklarheit hinaus. Man muss dem Begriff seine Ursprünglichkeit, seine eigene auf sich selbst gebaute Daseinsform lassen und ihn in dem sinnenfälligen Gegenstande nur in anderer Form wiedererkennen.

 

So sind wir zu einer Realdefinition der Erfahrung gelangt. Die Philosophie der Induktion kann ihrer Natur nach nie zu einer solchen gelangen. Denn es müsste gezeigt werden, in welcher Weise die Erfahrung Begriff und Gesetz vermittelt. Da aber die Philosophie der Induktion diese beiden als etwas bloß Subjektives ansieht, ist ihr von vorneherein der Weg dazu abgeschnitten. Man vergleiche damit die scharfsinnigen Ausführungen Joh. Rehmkes in dessen gediegenem Werke «Die Welt als Wahrnehmung und Begriff», Berlin 1880.

 

Daraus sieht man zugleich, wie unfruchtbar das Unternehmen wäre, ü̈ber die äußere Welt ohne Hilfe der Wahrnehmung etwas ausmachen zu wollen. Wie kann man sich des Begriffes in Form der Anschauung bemächtigen, ohne die Anschauung selbst zu vollbringen? Erst, wenn man einsieht, dass es Begriff und Idee ist, was die Wahrnehmung bietet, aber in wesentlich anderer Form als in der von allem empirischen Gehalt befreiten des reinen Denkens, und dass diese Form das Ausschlaggebende ist, begreift man, dass man den Weg der Erfahrung einschlagen muss. Nimmt man aber an, es sei der Inhalt das Maßgebende, dann kann der Behauptung, dass derselbe Inhalt doch auch auf eine von aller Erfahrung unabhängige Weise erworben werden könne, nichts entgegengesetzt werden. Also muss wohl Erfahrung die Maxime der Naturphilosophie sein, aber zugleich Erkenntnis des Begriffs in Form der äußeren Erfahrung. Und hier ist es, wo die moderne Naturwissenschaft dadurch, dass sie keinen klaren Begriff von Erfahrung suchte, auf Irrwege kam. An dieser Stelle wurde sie wiederholt angegriffen und ist auch leicht angreifbar. Anstatt die Apriorität des Begriffes anzuerkennen und die Sinnenwelt nur als eine andere Form desselben aufzufassen, betrachtet sie den Begriff als bloßes Derivat der Außenwelt, die ihr absolutes Prius ist. Die bloße Form einer Sache wird so zur Sache selbst gestempelt. Aus dieser Unklarheit der Begriffe geht der Atomismus, insofern er materialistisch ist, hervor.

Wir wollen hier denselben, gestützt auf das Vorhergehende, einer sorgfältigen und der - wie ich glaube annehmen zu können -einzig möglichen Kritik unterwerfen.

 

Wie auch die Meinungen im einzelnen auseinandergehen mögen, zuletzt kommt doch der Atomismus darauf hinaus, alle sinnlichen Qualitäten als: Ton, Wärme, Licht, Geruch usw., ja, wenn man auf die Art und Weise sieht, wie die mechanische Wärmetheorie das Mariottesche Gesetz ableitet, sogar den Druck als bloßen Schein, bloße Funktion der Atomenwelt anzusehen. Das Atom allein gilt als letzter Wirklichkeitsfaktor. Diesem muß man nun folgerichtig jede sinnliche Qualität absprechen, weil sonst ein Ding aus sich selbst erklärt würde.

 

Man hat zwar, wenn man daran ging, ein atomistisches Weltsystem aufzubauen*, dem Atom allerlei sinnliche Qualitäten beigelegt, obwohl auch nur in ganz spärlicher Abstraktion. Mal betrachtet man dasselbe als ausgedehnt und undurchdringlich, mal als bloßes Kraftzentrum usw. Damit beging man aber die größte Inkonsequenz und zeigte, dass man das Obige, welches ganz klar zeigt, dass überhaupt keine sinnlichen Merkmale dem Atome beigelegt werden dürfen, nicht bedacht hat. Die Atome müssen eine der sinnlichen Erfahrung unzugängliche Existenz haben. Andrerseits sollen aber auch sie selbst und auch die in der Atomwelt vor sich gehenden Prozesse, speziell Bewegungen, nichts bloß Begriffliches sein. Der Begriff ist ja bloß Allgemeines, das ohne räumliches Dasein ist. Das Atom soll aber, wenn auch nicht selbst räumlich, doch im Raum da sein, doch etwas Besonderes darstellen. Es soll mit seinem Begriffe noch nicht erschöpft sein, sondern über denselben hinaus eine Form der Existenz im Räume haben.

 

* Hierher gehören die Andeutungen, welche Du Bois-Reymond über ein solches System

gibt, sowie die ausgeführten Versuche von Wießner, Schrann u. a.

 

Damit ist in den Begriff des Atomes eine Eigenschaft aufgenommen, die ihn vernichtet. Es soll analog den Gegenständen der äußeren Wahrnehmung existieren, doch nicht wahrgenommen werden können. In seinem Begriffe ist die Anschaulichkeit zugleich bejaht und verneint. Außerdem kündigt sich das Atom sofort als ein bloßes Produkt der Spekulation an. Sieht man von den vorhin erwähnten, dem Atom ungerechtfertigt beigelegten sinnlichen Qualitäten ab, so bleibt für dasselbe nichts mehr übrig als das bloße «Etwas», das natürlich unveränderlich ist, weil an ihm nichts ist, also auch nichts zerstört werden kann. Der Gedanke des bloßen Seins, der in den Raum versetzt wird, ein bloßer Gedankenpunkt, im Grunde nur das beliebig vervielfachte Kantische «Ding an sich» tritt uns entgegen.

 

Man könnte dagegen einwenden, dass es doch ganz gleichgültig ist, was unter Atom verstanden wird, man solle den Naturhistoriker ruhig damit operieren lassen - denn zu vielen Aufgaben der mathematischen Physik sind ja atomistische Vorstellungen doch von Vorteil -; der Philosoph wisse ja schließlich doch, dass man es nicht mit einer räumlichen Realität zu tun hat, sondern mit einer Abstraktion, analog zu den mathematischen Vorstellungen.

 

Gegen die Annahme des Atomes in dieser Hinsicht sich zu wenden, wäre allerdings verfehlt. Aber darum handelt es sich nicht. Es ist den Philosophen um jenen Atomismus zu tun, dem Atom und Kausalität die einzig möglichen Triebfedern der Welt sind, der entweder alles nicht Mechanische leugnet oder doch als über unser Erkenntnisvermögen hinausgehend für unerklärlich hält**.

 

** Diese Ansicht vertritt Du Bois-Reymond in «Über die Grenzen des Naturerkennens» und «Die sieben Welträtsel», Leipzig 1882.

 

Es ist ein anderes, das Atom als bloßen Gedankenpunkt anzusehen, ein anderes, darinnen das Grundprinzip alles Daseins sehen zu wollen. Der erstere Standpunkt geht mit demselben nie über die mechanische Natur hinaus, der zweite hält alles für eine mechanische Funktion.

 

Wer von der Unschädlichkeit der atomistischen Vorstellungen sprechen wollte, dem könnte man ruhig die Konsequenzen, welche aus denselben gezogen worden sind, vorhalten, um ihn zu widerlegen. Es sind vorzüglich zwei notwendige Konsequenzen:

 

1. Das Prädikat der ursprünglichen Existenz wird an weiter ganz unbestimmte, gegeneinander schlechthin gleichgültige geistlose Einzelsubstanzen verschwendet, in deren Wechselwirkung nur mechanische Notwen -digkeit herrscht, so dass die ganze übrige Erscheinungswelt als leerer Dunst derselben besteht und sein Entstehen dem bloßen Zufall verdankt.

 

2. Daraus ergeben sich unüberschreitbare Grenzen unseres Erkennens.

 

Für den menschlichen Verstand ist, wie wir gezeigt haben, der Begriff des Atomes etwas ganz Leeres, das bloße «Etwas». Da aber mit diesem Inhalt die Atomisten sich nicht zufrieden geben können, sondern einen tatsächlichen Gehalt verlangen, diesen aber so bestimmen, wie er nirgends gegeben werden kann, so müssen sie die Unerkennbarkeit des eigentlichen Wesens des Atomes proklamieren.

Bezüglich der anderen Grenze des Wissens ist folgendes zu bemerken. Wenn man das Denken auch als eine Funktion der Wechselwirkung gleichgültig gegeneinander bleibender Atomkomplexe ansieht, so ist durchaus nicht zu verwundern, warum der Zusammenhang zwischen Bewegung der Atome einer-, Denken und Empfindung andrerseits nicht zu begreifen ist*, welches der Atomismus daher als eine Grenze unserer Erkenntnis ansieht. Allein zu begreifen ist nur da etwas, wo ein begrifflicher Übergang besteht. Wenn man aber vorher die Begriffe so begrenzt, dass in der Sphäre des einen sich nichts findet, was den Übergang in die Sphäre des ändern ermöglichen würde, so ist das Begreifen von vorneherein ausgeschlossen. Außerdem müsste dieser Übergang ja nicht bloß spekulativer Natur, sondern er müsste ein realer Prozess sein, sich also demonstrieren lassen. Dies wird aber wieder durch die Unsinnlichkeit der atomistischen Bewegung verhindert. Mit dem Aufgeben des Atombegriffes fallen diese Spekulationen über die Grenze unseres Wissens von selbst weg.

 

* Du Bois-Reymond: «Über die Grenzen des Naturerkennens (s. S. 7, Fußnote).

 

Man muss sich vor nichts mehr als solchen Grenzbestimmungen hüten, denn jenseits der Grenze ist dann für alles mögliche Platz. Der vernunftwidrigste Spiritismus ebenso wie das unsinnigste Dogma könnte sich hinter solchen Annahmen verstecken. Dieselben sind in jedem einzelnen Falle ganz leicht zu widerlegen, indem man zeigt, dass immer der Fehler zugrunde liegt, eine bloße Abstraktion für mehr anzusehen als sie ist, oder bloß relative Begriffe für absolute zu halten und ähnliche Irrtümer. Eine große Anzahl falscher Vorstellungen ist namentlich durch die unrichtigen Begriffe von Raum und Zeit in Umlauf gekommen**.

 

** Vischer sprach wiederholt die Notwendigkeit einer Korrektur unseres Zeitbegriffes aus (Krit. Gänge, 1873, Altes und Neues, 3. Teil).

 

Wir müssen diese beiden Begriffe daher einer Diskussion unterwerfen.

 

Die mechanische Naturerklärung bedarf zur Annahme ihrer Atomenwelt außer den in Bewegung begriffenen Atomen noch den absoluten Raum, d.h. ein leeres Vakuum, und eine absolute Zeit, d.h. einen un- veränderlichen Maßstab des Nacheinander***.

 

*** Man vergleiche: Otto Liebmann, Gedanken und Tatsachen, Straßburg 1882.

 

Was ist aber Raum? Absolute Ausdehnung kann die einzige Antwort sein. Allein diese ist nur ein Merkmal der sinnlichen Gegenstände und, abgesehen von diesen, eine bloße Abstraktion, nur da an und mit den Gegenständen und nicht neben denselben, wie der Atomismus notwendig annehmen muss. Wenn Ausdehnung vorhanden sein soll, so muss etwas ausgedehnt sein, und dies kann nicht wieder die Ausdehnung sein. Man wird hier etwa zum Beweise der Absolutheit des Raumes den Kantischen Einfall von den beiden Handschuhen der linken und rechten Hand einwenden können. Man sagt, die Teile derselben haben doch dasselbe Verhältnis zueinander, und doch kann man beide nicht zur Deckung bringen. Daraus schließt Kant, dass das Verhältnis zum absoluten Raum ein anderes ist, dieser mithin bestehe. Viel näher liegt es aber doch anzunehmen, das Verhältnis der beiden Handschuhe zueinander sei eben derart, daß sie nicht zur Deckung gebracht werden können.

 

Wie sollte auch ein Verhältnis zum absoluten Raum gedacht werden? Und selbst angenommen, es wäre möglich, so begründeten doch die Verhältnisse der beiden Handschuhe zum absoluten Raum erst wieder ein solches derselben zueinander. Warum sollte dies nicht ebensogut ein ursprüngliches sein können? Der Raum, abgesehen von den Dingen der Sinnenwelt, ist ein Unding. Wie der Raum nur etwas an den Gegenständen, so ist auch die Zeit nur an und mit den Prozessen der Sinneswelt gegeben. Sie ist den Prozessen der Sinneswelt immanent. An sich sind beide bloße Abstraktionen. Konkrete Gebilde der Sinnenwelt sind nur die sinnlichen Dinge und Prozesse. Sie stellen Begriffe und Gesetze in Form äußeren Daseins vor. Daher müssen sie in ihrer einfachsten Form Grundpfeiler der empirischen Naturlehre sein. Die einfache sinnliche Qualität und nicht das Atom, die Grundtatsache und nicht die hinterempirische Bewegung sind die Elemente der empirischen Naturwissenschaft. Damit ist ihr eine Richtung gegeben, welche die einzig mögliche ist.

 

Wenn man sich darauf stützt, wird man gar nicht versucht werden, von Grenzen des Erkennens zu sprechen, weil man es nicht mit Dingen zu tun hat, denen man willkürliche negative Merkmale wie übersinnlich und dergleichen beilegt, sondern mit wirklich gegebenen konkreten Gegenständen.

 

Aus diesen Andeutungen werden sich auch für die Erkenntnistheorie wichtige Folgerungen ergeben. Vor allem steht aber fest, daß das Atom und die hinterempirische Bewegung gegen die sinnlichen Grundelemente der äußeren Erfahrung vertauscht werden müssen und fortan nicht mehr als Prinzipien der Naturlehre gelten können.