Anthroposophie und Darwinismus

Zusammenfassung:

Die große Selbstverständlichkeit, mit der die heutige Menschheit die "Evolution" des Kosmos als eine Realität akzeptiert, gibt Anlass, die spirituell-empirische, d.h. dynamische Weltauffassung der Anthroposophie mit den kausalanalytischen Denkformen des Darwinismus zu verbinden. Auf vier Ebenen soll dies geschehen.

1. Das Pflanzenreich.

Zur Erklärung der pflanzlichen Organismen erweist sich der Darwinismus als wissenschaftlich nahezu uneingeschränkt fruchtbar, insofern es auf dieser Ebene vor allem um das „Überleben der Fittesten“ geht und „to fit“ im ursprünglichen Wortsinne bedeutet: „angepasst Sein“. Im Sinne seiner Fragestellung bietet der Darwinismus als theoretisches System nicht nur eine nahezu umfassende Erklärungsmöglichkeit der im Pflanzenleben wichtigsten Bedingungen, Anpassungen und Zusammenhänge, sondern darüber hinaus auch den Eindruck einer nahezu völligen Kongruenz seiner Denkmethoden, Hypothesen und Fragestellungen mit dem betrachteten Gegenstand, da es dem Darwinismus ausschließlich um das "Überleben" geht. Die Pflanzen und Bakterien sind insofern die erfolgreichsten Lebewesen überhaupt und so produktiv, dass ihre schiere Biomasse die gewaltigen Kontinentalsockel unseres Planeten bildet (Rosslenbroich 2018).

2. Das Tierreich.

Auf der Ebene des Tierdaseins stößt der Darwinismus an seine erste Verständnisgrenze, die durch das seelische Erleben des Tieres  gegeben ist, denn dieses interessiert den Darwinismus noch nicht. Das kann sich aber durchaus ändern, weil der Darwinismus keine Grundsätze enthält, die die Existenz des Seelischen ausschließen.

Das Tier erlebt beim sinnlichen Kontakt mit seiner Umwelt innerlich Lust und Unlust und betritt damit eine seelische Welt, die das Tier mit dem Menschen gemein hat und sich bis in die Nähe der geistigen Welt des Menschen erstreckt. Lust und Unlust wirken zwar innerhalb des seelischen Erlebens des Tieres sinnvoll, indem sie sein Seelenleben in Sympathie und Antipathie polarisieren und dadurch sein Verhalten ordnen. Das seelische Erleben kostet aber wertvolle Energie (C. Fortlage, 1869), wodurch der tierische Substanzaufbau etwa sechsmal mehr Energie erfordert als der pflanzliche.  Das Wachleben der Tiere ist also für das Überleben des Organismus im Unterschied zum Pflanzenleben primär ein Abbauprozess, also ein Nachteil . Die seelische Nähe des Tieres zum Menschen führt aber den Darwinismus zu unangemessen Schlussfolgerungen. Das schwächt seine wissenschaftliche Qualität und wirkt auf den Darwinisten entweder deprimierend oder moralisch demotivierend. So soll schon Darwin geradezu an seiner Theorie einer grausamen, den Egoismus belohnenden Natur gelitten und geäußert haben, „dass es ihm vorkomme, als habe er einen Mord begangen“ (zit. n. Schad 2018).

3. Der Mensch als Naturwesen.

In den Augen des Darwinismus ist der Mensch nicht mehr als ein höheres Tier, wenn nicht sogar weniger, denn bezüglich seiner Triebe und Instinkte ist er ein „Mängelwesen“(Gehlen 1940): Sowohl die Instinkt- als auch die Triebausstattung des Menschen ist im Vergleich zum Tier mangelhaft. Im Unterschied zum gruppenhaften Verhalten des Tieres aber werden im indidualisierten Seelenleben des Menschen die Lust- und Unlusterlebnisse nicht bloß zum Inhalt des Empfindungslebens, sondern im Denken und Wollen zu Erkenntnis- und Entwicklungskräften gewandelt, die Ihn zur Entwicklung des Selbstbewusstseins befähigen und moralisch mündig werden lassen.

So ist der Mensch im Verlauf seiner Evolution zu einem geistigen Wesen geworden, das der zeitlichen Voraussicht und der freien Erinnerung, des Hassens und Liebens, der Selbstreflektion und damit auch des Bösen und Guten fähig ist. Als Schöpfer einer sprachlich, sozial, künstlerisch und technologisch geprägten Menschheitskultur steht er heute über dem Tier, aber zugleich damit ratlos an der Schwelle zum moralischen Bankrott eines Kampfes aller gegen alle und des Zusammenbruches der ökologischen Kreisläufe, die unser Leben tragen.

4. Der Mensch als freie geistige Wesenheit.

Für den Darwinismus scheint diese Entwicklung des Krieges eines jeden gegen jeden unvermeidlich. Aber die Anthroposophie durchschaut die Gesetzmäßigkeit, die dem Menschen mit der Nächstenliebe zugleich einen verstärkten Egoismus bringt: Nur der Mensch kann Stolz und Hochmut für das empfinden, was er dazugelernt hat, weil nur er ein Ich hat. Für das Tier beschreibt zwar die Neurobiologie so genannte „Belohnungssysteme“, die das Begehren des Tieres nach gehabtem Handlungserfolg beruhigen, aber dass man ein „Ich“ braucht, um erst den Egoismus zu entwickeln, der die Selbstlosigkeit gebiert, entgeht ihr, weil sie das "Ich" für eine Illusion hält. So braucht der Mensch eine spirituelle Psychologie, wie sie in der Anthroposophie gegeben ist, um den Weg einer Selbstüberwindung zu gehen, die keiner Obrigkeit, sondern nur der Meisterschaft des Ich über die eigene Seele verpflichtet ist.