Der Aetherleib des Menschen

Wir wissen, dass das Gras wächst. Wir sehen auch, dass es wächst. Aber wir sehen nicht, wie es wächst. Schon beim Versuch, zu sehen, wie das Gras wächst, müssten wir das Gras in durchsichtige Scheibchen schneiden, d.h. zerstören, weil es ja durch innerliche Verwandlung in der Zeit und im Raume wächst. Das Aufschneiden in durchsichtige Scheibchen würde aber dem Gras sein Leben nehmen, also gerade das austreiben, was wir Kennen Lernen möchten.

 

Das ist die Krux des modernen Menschen! - Dennoch sprechen wir ganz seriös vom Menschen als von einem „Lebewesen“, von seinem „Lebenslauf“ und seinem „Lebenswillen“, und sogar von seiner "Leber" als von seinem „Leberorgan“.

 

So könnten wir auch ganz einfach von der "Organisation des Organismus" sprechen, denn um genau diese "Organisation" des "Organismus" geht es, wenn wir vom "Aetherleib" im Sinne der Anthroposophie sprechen. Diese "Organisation" funktioniert aber "wie von selbst, weil wir den Aetherleib nicht wahrnehmen.  

 

Immer dann, wenn der Mensch etwas "organisiert", ahmt er die Tätigkeit des Aetherleibes nach, obwohl ja sein Astralleib, mit anderen Worten: sein "Begierdewesen", in der Rangordnung der Mächte innerhalb des menschlichen Leibes höher steht als der Aetherleib, indem er diesem die Erfüllung seiner Begierden abverlangt. Aber das würde nur Chaos in unserer leiblichen Organisation erzeugen, und so hat zum Glück der Astralleib  selbst noch eine Instanz über sich, das "Ich" des Menschen. Dieses bestimmt, ob zur Organisation des Selbst jetzt gerade passt, was der Astralleib fordert. Aber dieses "Selbst" des Menschen weiß normaler Weise noch weniger vom Aetherleib, nämlich überhaupt nichts.

 

Der Aetherleib steckt also hinter dem  „Rätsel des Lebendigen“. Da aber geht es unserem "Ich" doch zumeist nicht besser als der heutigen Naturwissenschaft: Diese glaubt zwar, das Rätsel des Lebendigen "geknackt" zu haben, indem sie sich das Modell der Watson-Crick-Spirale geschaffen hat. Dennoch weiß sie nicht so recht, was sie mit dem Begriff des „Lebendigen“ anfangen soll, ob sie dieses Rätsel ernsthaft beforsten will, oder nicht lieber doch zur „falschen Frage“ deklarieren und damit ganz ad acta legen kann.

 

Im vorgriechischen Asien war die physische Welt schlechthin noch die "gewachsene" Welt und Aristoteles bezeichnete noch das "Leben" als die "Substanz des Organismus", dessen "Form" die "Psyche", also die Seele sei (Aristoteles: Von der Psyche).

 

Anthroposophie bleibt aber beim Begriffe Bilden nicht stehen, sondern nennt einen geistigen Schulungsweg, der ein Weg der Willensschulung im Denken ist. Er kann dem Menschen die Kraft geben, nicht mehr einzuschlafen beim Versuch, das Gras wachsen zu sehen, ohne es zu zerstören.

 

Tatsächlich kann man auf diesem Weg sich darin üben, das eigene Denken zu beobachten, indem man die Gestaltverwandlungen der Pflanzen betrachtet und die innere Bewegung des Aetherleibes der Pflanze im eigenen Denken nachvollzieht. Darin kann man sich so weit üben, bis dieses "Nachvollziehen" in der Gegenwart angekommen ist und die Gestaltverwandlungen der Pflanzen als Gegenwart eines Geistigen geschaut werden, das die Natur verwandelt.

 

Dabei spricht Anthroposophie vom Eintreten der „Imagination“ als der untersten Stufe eines höheren, gegenüber dem materiellen Bewusstsein erweiterten, übersinnlichen Bewusstseinszustandes. Diese unterste Stufe einer höheren Erkenntnisfähigkeit offenbart dem schauenden Bewusstsein die Wesenheit des „Ätherleibes“ als die Grundlage allen Lebens des Organismus.

 

Man muss dieses Erlebnis aber deutlich von zwei nur scheinbar damit identischen Geisteszuständen unterscheiden: Auch die Naturwissenschaft hat schon von der "Lebenskraft" gesprochen und daraus den "Vitalismus" entwickelt. Doch diese Betrachtungsart geht nicht bis zur Veränderung des Willenslebens und kommt insofern über den Geisteszustand des "Intellektualimus" nicht hinaus.

 

Aber auch die künstliche Veränderung des Wahrnehmungslebens durch Drogen führt nur zur Bewusstseinsverschiebung, aber nicht zur "Imagination" als Bewusstseinserweiterung im anthroposophischen Sinne, weil hier der Wille direkt von physischen Mitteln abhängig gemacht wird, so dass das Ich nicht mehr wollen kann, was es will, sondern nur, was die Droge will.

 

Auf die Ergebnisse einer Disziplinierung des Willens, die auf dem oben genannten anthroposophischen Weg erübt wird (Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit, 1894), stützt sich die folgende Betrachtung.

 

Der hier zitierte Text ist einem mündlich gegebenen Kurs Rudolf Steiners für die Mitarbeiter einer heilpädagogischen Einrichtung aus dem Jahre 1924 entnommen (Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (GA 317: Heilpädagogischer Kurs, S. 30 ff):


„. . . wir sind umgeben von der physischen Welt, aber auch von der ätherischen Welt, aus der ja unmittelbar, bevor wir heruntersteigen zu unserer physischen Inkarnation, der menschliche Ätherleib genommen wird.“

 

Kommentar:
Rudolf Steiner spricht hier offenbar von einer „ätherischen Welt“, die uns umgibt als eine zweite Welt neben und zugleich innerhalb der uns ja normalerweise einzig vertrauten „physischen Welt“. Durch diese ätherische Welt, so der Text weiter, steigen wir offenbar aus einem vorgeburtlichen Dasein „herunter“ in die physische Welt zu unserer irdischen Inkarnation. Aber bevor wir dies können, wird aus der ätherischen Welt unser menschlicher „Ätherleib“ entnommen.

Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (a.a.O):
„Der menschliche Ätherleib wird ja aus dem allgemeinen Weltenäther genommen, der durchaus überall vorhanden ist. Nun, dieser Weltenäther, meine lieben Freunde, der ist in Wirklichkeit der Träger der Gedanken.“

 

Kommentar:
Lassen wir versuchsweise alle Bedenken gegen eine präkonzeptionelle, nicht physische Existenz des Menschen beiseite und konzentrieren uns allein auf die Logik der Aussage. Dann erscheint uns die Erwähnung der Gedanken zunächst wie eine Abirrung der Argumentation, da wir Gedanken als etwas für die physische Existenz des Menschen ganz Sekundäres, Subjektives, ja, relativ Unbedeutendes  betrachten. Aber was ist die uns bekannte Logik ihrem Wesen nach? Ist sie wirklich so objektiv, wie allgemein angenommen? Oder beruht ihre Plausibilität nicht doch mitunter auf Vorurteilen? Sind unsere Bedenken gegen in der Welt objektiv vorhandene Gedanken nur auf Vorurteile gebaut?

Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (a.a.O):
„Dieser Weltenäther, den alle gemeinsam haben, er ist der Träger der Gedanken, da sind die Gedanken darinnen, da sind jene lebendigen Gedanken eben darinnen, von denen ich Ihnen immer gesprochen habe auch in anthroposophischen Vorträgen, dass der Mensch ihrer teilhaftig ist im vorirdischen Leben, bevor er auf die Erde heruntersteigt.“

 

Kommentar:
Den Weltenäther haben wir demnach alle gemeinsam. Und dort sind alle "lebendigen" Gedanken schon vorhanden. - Sind denn die Gedanken nicht unser ureigenstes, völlig willkürliches Gespinst? - Immerhin nennt man aber die Gedanken, sofern sie der Vernunft gehorchen, auch "Common Sense", was wörtlich übersetzt so viel heißt wie: "Gemein - Sinn". Soll das heißen, dass vorgeburtlich alle Menschen schon die selben Gedanken zur Verfügung haben? Entstehen denn unsere Gedanken nicht erst im Verlauf des Lebens aufgrund individueller Erfahrung und Anstrengung?

 

Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (a.a.O):
„Das alles, was überhaupt an solchen Gedanken vorhanden ist, ist im lebendigen Zustande im Weltenäther darinnen und wird niemals entnommen aus dem Weltenäther im Leben zwischen Geburt und Tod, niemals, sondern alles, was der Mensch an lebendigem Gedankenvorrat in sich enthält, empfängt er dann in dem Augenblick, wo er aus der geistigen Welt heruntersteigt, also sein eigenes Gedankenelement verlässt, wenn er heruntersteigt und sich seinen Ätherleib bildet.“

 

Kommentar:
Das macht das eigentliche Rätsel umso deutlicher: Gedanken sind im "lebendigen" Zustand, wenn sie im Weltenäther sind. Und in diesem Weltenäther hat der Mensch sein "eigenes" Gedankenelement, aus dem er sich seinen "Ätherleib" bildet. Und dieser Ätherleib besteht aus "lebendigen" Gedanken, die den physischen Leib des Menschen organisieren. Des weiteren erfahren wir, dass im Leben zwischen Geburt und Tod keine "lebendigen" Gedanken vom Menschen mehr direkt aus dem Weltenäther genommen werden, sondern beim Verlassen der geistigen Welt im Ätherleib des Menschen bevorratet werden. Dieser Ätherleib ist ganz offenbar eine individuelle Bildung des Menschen, der er seine Gesundheit, sein Leben, seine "Biographie" verdankt. Was wir andererseits den "Common Sense", den "Gemein-Sinn" nennen, diese Vernunft, die also nicht individuell ist, sondern im Austausch mit unseren Mitmenschen im Verlaufe des Lebens errungen wird, besteht im Unterschied dazu nicht aus lebendigen, sondern aus "toten" Gedanken. Im Unterschied zu den "lebendigen" Gedanken des Ätherleibes sind die "toten" Gedanken unseres Bewusstseins nur die Symbole für ein in der Welt Wirksames. Denn mit diesen "toten" Gedanken können wir zwar ein Gutes oder ein Böses erkennen oder planen. Aber mit bloßen Gedanken können wir es weder verhindern, noch zur Ausführung bringen. Das können wir erst im Handeln, also erst dann, wenn wir die Organe in Bewegung setzen, die unser Ätherleib aus "lebendigen" Gedanken erbaut hat.

 

"Wenn Sie einen Baum anschauen, meine lieben Freunde, so wirken darin dieselben geistigen Kräfte, denen Sie gegenüberstehen zwischen Tod und neuer Geburt, nur sind sie verdeckt, verhüllt durch die physische Materie des Baumes. Überall in der physischen Welt, in der wir sind zwischen Geburt und Tod, wirken die geistigen Kräfte auch im Hintergrund der sinnlich-physischen Entitäten" (GA 318, Vortrag vom 11.9.1924).

 

Mit diesen Sätzen erweitert sich der Begriff des Ätherleibes auf alle Lebewesen der Welt. Und was wir im Menschen als seine "Biographie" vorfinden, wird im Unterschied zum Baum nur in seiner Frühphase hauptsächlich durch den Ätherleib bestimmt. Im weiteren Verlauf des menschlichen Lebens wird die Tätigkeit des Ätherleibes durch die Einflüsse dessen, was dem Menschen die Empfindungsfähigkeit, und die Einflüsse dessen, was dem Menschen seine Moralität verleiht, zunehmend stärker modifiziert, bis ungefähr mit der sogenannten "Volljährigkeit" die volle menschliche Individualität etabliert ist. In der Anthroposophie nennt man die leibliche Grundlage der Empfindungsfähigkeit, die der Mensch mit dem Tier gemein hat, den "Empfindungs- oder Astralleib". Im Unterschied dazu wird die leibliche Grundlage der moralischen Kompetenz des Menschen als seine "Ich-Organisation" bezeichnet.

 

Der Ätherleib ist also ein geistiges Kräftesystem, das den physischen Leib nicht nur des Menschen, sondern auch der Tiere und Pflanzen bildet und organisiert. Und der Vergleich der "lebendigen" Gedanken des Ätherleibes mit den "toten" Gedanken unseres Bewusstseins beruht soweit nur auf der Einsicht, dass wir in der Logik unserer Gedanken ein sehr treffendes Bild für das haben, was alle Lebewesen innerlich organisier: Der schaffende Weltengeist.

Wie sich die Tätigkeit des Ätherleibes über den gesamten Organismus des Menschen hin differenziert und dabei von den Kräften des "Empfindungsleibes" und der "Ich-Organisation" modifiziert wird, das soll im Folgenden skizziert werden.

 

Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (a.a.O):
„Wenn ich also das Schema von gestern noch einmal mache,

 

Abb 1: Tafelzeichnung Rudolf Steiners vom 26.6.24
Abb 1: Tafelzeichnung Rudolf Steiners vom 26.6.24


wenn Sie hier (siehe Tafelzeichnung) den Menschen sehen, wenn wir hier das symptomatische Seelenleben, Denken, Fühlen, Wollen haben, so haben wir einen Teil des wirklichen Seelenlebens in den Gedanken. - Und diese Gedanken, die wir aus dem allgemeinen Weltenäther herausnehmen, die bilden uns vorzugsweise unser Gehirn und im weiteren Sinne das Nerven-Sinnessystem. Das ist das lebendige Denken, das bildet uns das Gehirn zum Abbauorgan, zu dem Organ, das gewissermaßen in folgender Art die Materie behandelt.“

 

Kommentar:
Aus der Sicht der Anthroposophie bildet der Ätherleib mittels der „lebendigen“ Gedanken ein „wirkliches Seelenleben“. Dieses bringt das Gehirn hervor, und das Gehirn bildet die „symptomatischen“ Gedanken. Was Steiner hier als „symptomatische“ Gedanken bezeichnet, das sind die "toten" Gedanken, mit deren Hilfe wir unsere Weltsicht im Austausch mit den anderen Menschen symbolisch aufbauen. Aber diese "toten", „symptomatischen“  Gedanken des Gehirns wissen nichts vom „wirklichen Seelenleben“, das das Gehirn hervorgebracht hat.

 

Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (a.a.O):
„Wenn wir hinausschauen auf die Umgebung, da haben wir die Substanzen des Irdischen um uns herum, in ihren verschiedenen Prozessen und Wirkungsarten. Diese Prozesse, die da in der Natur leben, die werden stufenweise abgebaut von der Tätigkeit des lebendigen Denkens, so dass fortwährend hier, das heißt, die Prozesse gestoppt werden, die die Naturprozesse sind.“

 

Kommentar:
Der menschliche Ätherleib (dessen Inhalt die lebendigen Gedanken sind, die unter anderem das Gehirn bilden) baut mittels der besonderen Struktur des Gehirns fortwährend die Prozesse ab, die in der Natur leben, indem er sich ihnen entgegenstellt (siehe den  orangeroten Strich in der Tafelzeichnung, der durch eine haarnadelförmig umgebogene gelbe Linie gebremst wird). Darin liegt ein Rätsel verborgen, das Steiner so ausdrückt, dass er sagt: „Diese Prozesse, die da in der Natur leben. . . „.


Diese Ausdrucksweise kann nur bedeuten, dass auch die Naturprozesse unserer irdischen Umgebung lebendig sind, und nicht nur die Prozesse innerhalb des menschlichen Ätherleibes.

 
Da dies Fragen aufwirft, beziehen wir eine Passage aus dem selben Kurs, aber einen Tag später im Vortrag geäußert, mit ein. Dort erläutert Steiner speziell diesen Punkt:

Rudolf Steiner in Dornach am 27. Juni 1924 (GA 315, S. 47):
„Geisteswissenschaft spricht so vom Licht: Sie nennt Licht auch das, was anderen Sinneswahrnehmungen zugrunde liegt, wie zum Beispiel das Licht der Tonwahrnehmungen. Wenn wir Tonwahrnehmungen haben, so ist die äußere Physik überhaupt nur versucht, von dem äußeren Korrelat der Tonwahrnehmung, von der bewegten Luft zu reden. Die bewegte Luft ist nur das Medium des wirklichen Tonelementes. Das wirkliche Tonelement ist ein Ätherisches, und die Vibration der Luft ist nur die Wirkung dieses ätherischen Vibrierens. Licht lebt auch in der Geruchswahrnehmung. Kurz, für alle Wahrnehmungen liegt zugrunde ein viel Allgemeineres als Licht, als was man in der Physik Licht nennt.“

 

Kommentar:
Da haben wir genau dieselbe Formulierung nochmals, nun aber nicht mehr allgemein gehalten, sondern spezialisiert: „Licht lebt auch in der Geruchswahrnehmung.“ Zwar kann man die Sichtweise Steiners, die sich hier offenbart, insgesamt als ungewohnt oder gar als unplausibel abweisen. Aber zugleich können wir uns durch diese Passage sicher sein, dass Steiners Formulierungen nicht phrasenhaft, sondern mit Bedacht gewählt sind. Offenbar kommt Geisteswissenschaft zu dem Ergebnis, dass alle wahrnehmbaren Substanzprozesse unserer irdischen Umgebung zugleich auchlebendige Prozesse des Weltenäthers sind. Das besagt, dass die eigentlichen Quellen der für den Menschen sinnlich wahrnehmbaren materiellen Prozesse der Erdumgebung im lebendigen Weltenätherliegen:

„  . . . die Vibration der Luft ist nur die Wirkung dieses ätherischen Vibrierens. .  .“

Wir fahren hier einstweilen fort mit dem ursprünglichen Text:

Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (a.a.O):
Also im Gehirn wird der Anfang damit gemacht, dass die Naturprozesse gestoppt werden und die Materie fortwährend in Absonderung herausfällt. Die herausgefallene Materie, die also ausgeschiedene und unbrauchbar gewordenen Materie: das sind die Nerven.“

 

Kommentar:
Hier besteht ein erstes Rätsel für uns darin, dass „der Anfang“ im Gehirn gemacht wird. . . 
Kann denn das Gehirn am Anfang stehen? Brauchen wir nicht alle anderen Organe zuerst, schon bevor ein Gehirn überhaupt entstehen kann? – Nun, es gibt aber einen Moment im Leben, wo das Gehirn am Anfang steht: Nach allem, was man heute über die Embryonalentwicklung weiß, ist die allererste embryonale Anlage des Menschen, die sogenannte Keimscheibe (bei den Embryologen als der „primäre Ektoblast“ bezeichnet) zugleich schon die erste Anlage des Gehirns.

Abb 2: Menschliche Keimscheiben vom 13. – 19. Tag der Embryonalentwicklung.
Abb 2: Menschliche Keimscheiben vom 13. – 19. Tag der Embryonalentwicklung.


Der links noch sehr kurze Spalt am Unterrand der Keimscheibe ist die sogenannte „Primitivrinne“, aus der sich alle Organe abwärts des Gehirnes entwickeln. Man sieht hier anschaulich, inwiefern der frühe Embryo zunächst nur ein riesiger Kopf, oder besser gesagt: ein riesiges Gehirn ist, denn es fehlen zunächst selbst die Augen, Ohren, Nase, Zunge, die Zähne, der Mund, Schlund, Rachen, und überhaupt jegliche Knochenbildung. (Aus: www.visible embryo.com)

Alle weiteren Organe des Menschen werden daran angefügt, und zwar so, dass die kopfnahen Organe zuerst, die kopffernen danach kommen. 
Zum Beispiel entstehen erst die Arme, dann die Beine. Die genauere Betrachtung ergibt aber, dass schon die Finger der Hand erkennbar sind, während der Arm noch ganz ungegliedert ist. Die Hand entwickelt sich also schneller, obwohl sie dem Kopf ferner liegt als der Arm. Das Entsprechende gilt auch für die Bildung der Füße und der Beine(hier nicht dargestellt). Das weist auf einen zweiten Bilde-Impuls hin. Dieser zweite Impuls, der die Peripherie der Gliedmaßen ergreift, wirkt offenbar anders, als der zuerst genannte, wirkt nicht vom Gehirn aus, sondern aus dem Umkreis.

Abbildung 3:
Abbildung 3:

 

Menschlicher Embryo mit Fruchtblase und Nabelschnur in der 6. Woche der Schwangerschaft. Beachtenswert ist, wie hier die Arme weiter entwickelt sind als die Beine. Die genauere Betrachtung ergibt aber, dass schon die Finger der Hand erkennbar sind, während der Arm noch ungegliedert ist. Die Hand entwickelt sich also schneller, obwohl sie dem Kopf ferner liegt als der Arm. Entsprechendes gilt auch für die Bildung der Beine und Füße(hier nicht dargestellt). Das weist auf einen zweiten Bilde-Impuls hin. Dieser zweite Impuls, der die Peripherie der Gliedmaßen ergreift, wirkt offenbar anders, als der zuerst genannte, wirkt nicht vom Gehirn aus, sondern aus dem Umkreis.(Aus Lennart Nilsson: Ein Kind entsteht. Mosaik Verlag 1990)

 

Diese letztere Perspektive ergibt sich allerdings schon von Anfang an: Schon die ersten Zellteilungen des werdenden Embryo des Menschen verlaufen asynchron, weil sich eine „Zellrasse“ schneller entwickelt als die andere. Der „primäre Ektoblast“ besteht offenbar aus mehr als nur der Anlage für das Gehirn: Das Gehirn entsteht aus der „Inneren Zellmasse“ des frühen Embryo, wohingegen die „äußere Zellmasse“ so gar nicht benannt wird, sondern gleich mit Bezug auf ihre Funktion als der „Trophoblast“ (Trophein = Ernähren, Blastos = Gewebe), zu deutsch als „Nährhülle“ bezeichnet wird. Und die Zellen, die diese Nährhülle bilden, sind zugleich auch jene, die in der Entwicklung vorauseilen, sich also schneller teilen als die Zellen der „Inneren Zellmasse“. Wie dies genau geht, das zeigen die Abbildungen 4 und 5:

Abb 4: Erste Furchungsteilungen des menschlichen Embryo (schematisch)
Abb 4: Erste Furchungsteilungen des menschlichen Embryo (schematisch)


Schon sehr früh verlaufen die Furchungsteilungen des Embryo asynchron, weil eine „Zellrasse“, aus der später die „Nährhülle“ entsteht, sich schneller teilt. Das erzeugt eine Rotation der Teilungsebene (hier als Cleavage Plane IIB bezeichnet).(Aus Scott Gilbert: Developmental Biology, 8th Edition, 2006, S. 355) 

 

A + B
A + B


 

Abbildung 5 a - e
Abbildung 5 a - e

 

Phasen der menschlichen Embryonalentwicklung vom Beginn der Furchungsteilung bis zur Einnistung in die Gebärmutterwand. 
(a - c): Erste Furchung und Zellvermehrung des Keimes. (d): Zusammenziehung zum kompakten „Morulakeim“. (e): Weitung zur „Keimblase“. Die Keimblase besteht aus einer äußeren Zellschicht, der Anlage der Nährhülle, und einer „Inneren Zellmasse“(oben in e), aus der sich der Embryonalkörper bildet.
(Aus Lennart Nilsson: Ein Kind entsteht. Mosaik Verlag 1990)

Der  „Trophoblast“  bildet zunächst eine nur einzellige Schicht. Diese Schicht hüllt die „Innere Zellmasse“ vollständig ein, denn sie ist die erste Anlage des „Mutterkuchens“, also jenes Nährgewebes, das den Embryo bis zur Geburt hin ernährt.

Abb 6: Zottige Nährhülle, Fruchtblase und Embryo des Menschen in der 6. Woche der Embryonalentwicklung.
Abb 6: Zottige Nährhülle, Fruchtblase und Embryo des Menschen in der 6. Woche der Embryonalentwicklung.


Aus Scott Gilbert: Developmental Biology, 8th Edition, 2006, S. 355)

Der sogenannte „Mutterkuchen“, in der Fachsprache als Plazenta bezeichnet, entsteht aus der diffus zottigen "Nährhülle", indem sich die Zotten in einem Bezirk zusammenballen und dort einen blutdurchströmten Innenraum, die menschliche "Topfplazenta" bilden. Die Plazenta ist also größtenteils ein Organ des Embryo, bis auf das mütterliche Blut, das ihren Innenraum durchströmt, und nicht etwa, wie das deutsche Wort suggeriert, eine mütterliche Bildung. Aber dieser "Mutterkuchen" wird vollständig zerstört und abgeworfen bei der Geburt, also in dem Moment, in dem sich der Mensch vom Mutterleib entbindet und auf die Erde „niederkommt“. Bis dahin kann man den Mutterkuchen als ein Bild für den „Weltenäther“ nehmen, denn wie der Weltenäther uns lebendig umgibt, so umgibt der Mutterkuchen den Embryo und versorgt ihn mit Leben. 

Aber dann kommt der Hammer: Jetzt, als der Mensch bereit ist, die Erde zu betreten, stoppt das Gehirn den Mutterkuchen. Zumindest kann man die menschliche Geburt in dieser Weise zugespitzt beschreiben, und kann sogar finden, dass bei der menschlichen Geburt „die Materie in Absonderung herausfällt“.

 

Was meinte Steiner aber wirklich? – denn er sagte ja: „fortwährend“, und nicht bloß einmalig fällt die Materie heraus.
Wir nehmen also die menschliche Vorgeburtlichkeit, soweit sie den menschlichen Sinnen zugänglich ist, als ein Bild für die vorgeburtliche Situation des Menschen bezüglich des Weltenäthers aus übersinnlich - anthroposophischer Sicht. Aber es bleiben viele Fragen offen, da wir das „fortwährende“ Herausfallen der Nervensubstanz nicht verstehen, und ebenso wenig einsehen, inwiefern die Materie, die da angeblich fortwährend herausfällt, nun „unbrauchbar“ sein soll, wenn daraus doch die Nerven gebildet werden.

Nun gibt es da einen Aspekt der Hirnbildung, der uns weiterführen könnte: Im Gegensatz zu den meisten Substanzen des menschlichen Körpers, ist die Substanz des Gehirns nicht weiterverwertbar innerhalb des Organismus. Am schönsten (und erfreulichsten) beobachten wir die Wiederverwertung menschlicher Substanz an den Fettpölsterchen, die sich zurückbilden, wenn über längere Zeit ein Kalorienmangel besteht. Auch die Nervensubstanz besteht zum größten Teil aus fettartigen Substanzen. Diese wären bei Kalorienmangel ganz schön ergiebig. Aber da gibt es eine Sperre: Die fettartige Nervensubstanz ist grundsätzlich geschützt vor der Wiederverwertung bei Kalorienmangel.

 

Könnte Rudolf Steiner dies gemeint haben? – Wir sind uns nicht sicher, und lesen weiter:

Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (a.a.O):
„Und diese Nerven bekommen dadurch, dass sie fortwährend ertötet werden, eine Fähigkeit, die der Spiegelungsfähigkeit ähnlich ist. Dadurch bekommen sie die Fähigkeit, dass sich durch sie die Gedanken des umliegenden Äthers spiegeln, und dadurch entsteht das subjektive Denken, das oberflächliche Denken, das nur in Spiegelbildern besteht, das wir in uns tragen zwischen Geburt und Tod.“

Unterbrechung:
Möglicherweise bewertet Rudolf Steiner die Tatsache, dass die Nervensubstanz vom Recycling des Organismus fortwährend ausgeschlossen wird, als Merkmal ihrer Ertötung. Und dieses Merkmal soll die Grundlage einer Fähigkeit sein, die er als oberflächliches Denken bezeichnet, das nur aus Spiegelbildern des umliegenden Äthers (Weltenäthers?) besteht. 


Wieder können wir gegen die Logik eines solchen Gedankens nichts einwenden, aber es fehlen uns wesentliche Bezüge zur Wirklichkeit: Worin besteht der fortwährende Ausschluss der Nervensubstanz aus den Lebensprozessen des Organismus? Warum sind nicht auch andere Organe des Organismus Grundlage des subjektiven Denkens, zum Beispiel die Zähne, die Haare, die Fingernägel, die Kopfschuppen, die oberste Hautschicht, die Muttermilch, die Tränen, der Schweiß, der Inhalt der Harnblase, der Dickdarminhalt, die doch allesamt vom Recycling des Organismus ausgeschlossen sind?

 

Wenn nicht das einmalige, sondern das "fortwährende" Ausschließen der Substanz aus den Prozessen des übrigen Organismus die Grundlage des subjektiven Denkens sein soll, dann muss dieses fortwährende Ausschließen der Prozesse des übrigen Organismus ein Hauptmerkmal der Physiologie des Nervensystems sein. Hier kommt in Betracht, dass die Nerven des Gehirns einen fortwährenden Prozess der elektrischen Potentialbildung unterhalten, der den Organismus sehr viel Energie kostet: Etwa 25% des gesamten Sauerstoffverbrauches entfallen Tags und Nachts, also tatsächlich "fortwährend" auf das Gehirn.

Das zeigt die folgende Abbildung:

Abb 7: Maxima und Minima der regionalen Hirndurchblutung bei Messung mit der radioaktiven Xenon-Methode. Die Gesamtdurchblutung des Gehirns im Schlafzustand wurde mit 100% bezeichnet (Bildmitte). Rote Punkte: Regionen mit mehr als 20% Blutflusssteigerung.
Abb 7: Maxima und Minima der regionalen Hirndurchblutung bei Messung mit der radioaktiven Xenon-Methode. Die Gesamtdurchblutung des Gehirns im Schlafzustand wurde mit 100% bezeichnet (Bildmitte). Rote Punkte: Regionen mit mehr als 20% Blutflusssteigerung.


Mittels der radioaktiven Xenon-Methode wurde der Blutfluss des Gehirns gemessen, der ja unmittelbar vom Sauerstoffverbrauch abhängig ist. Dabei wurde der Verbrauch des schlafenden Gehirns mit 100% angesetzt (Abb 7, Bildmitte). Nun zeigt sich erstaunlicher Weise, dass die unterschiedlichsten Bewusstseinsaktivitäten am Gehirn nicht mehr als etwa 16% Steigerung des Sauerstoffverbrauches verursachen. 
Das ist zum Beispiel bei Muskeln ganz anders: Auch sie bauen elektrische Potentiale auf, - wie übrigens alle Zellen des Organismus -, aber die Energiebilanz dieser Potentiale wird nicht relativ konstant gehalten, sondern variiert im direkten Zusammenhang mit den übrigen Funktionen des Organismus: Bei Ruhe ist der Energieverbrauch der Muskeln nahezu Null, bei maximaler Bewegung steigt er auf das über 1000fache!
Deshalb müssen wir so heftig noch minutenlang nach einem schnellen Lauf oder irgendeiner anderen schweren Muskelarbeit atmen: Der ganze Körper ist eine „Sauerstoffschuld“ eingegangen, die der Muskel alleine gar nicht hätte begleichen können, sondern nun nachträglich über das Blut und die Lungenatmung einfordert. Das ist es, was Muskelarbeit so gesund macht: Der ganze Körper wird mit einbezogen, bis auf eine Ausnahme: Das Gehirn. Das Gehirn steigert seinen Verbrauch nur um 16% im Vergleich zum Schlafzustand, wenn wir uns bewegen, wird also fast überhaupt nicht mit einbezogen, und bezieht den übrigen Organismus auch kaum mit ein, wenn wir Denken: Steigerung des Sauerstoffverbrauches um ganze 10% beim Nachdenken, beim Zählen um 12%. Deshalb ist Kopfarbeit so ungesund!

Also kann man beim Gehirn wirklich sagen: Der Sauerstoffverbrauch ist die Folge seiner „Substanzeigenschaften“, aber nicht seiner Funktion, denn nur zur fortwährendenAufrechterhaltung seiner elektrischen Eigenschaften benötigt das Gehirn den Sauerstoff, wohingegen die jeweilige Tätigkeit innerhalb des Organismus diesbezüglich mehr oder weniger Nebensache ist. 
Die  „splendid Isolation“ des Gehirns gegenüber den Lebensprozessen des übrigen Organismus muss also fortwährend unter Energie-Verbrauch aufrecht erhalten werden, sonst geht die Fähigkeit des Denkens verloren, entweder permanent, oder vorübergehend: Schon nach 10 Minuten Sauerstoff-Entzug ist die Denkfähigkeit des Gehirns permanent zerstört. Und wie man heute weiß, schalten Schlaf- und Narkosemittel die Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit des Gehirns vorübergehend dadurch aus, dass sie die Blut-Hirn-Schranke funktional aufheben, so dass also die Gehirnprozesse vorübergehend nicht mehr aus den Lebensprozessen des übrigen Organismus  „herausgefallen“, sondern in sie einbezogen sind. Dieser Einbezug ist es also, der uns unmittelbar das Denkvermögen kostet.

Nach dieser Klärung schließen wir ab, was wir hierzu aus dem Vortrag vom 26.6.1924 zitieren wollten:

Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (a.a.O):
„Wir werden also dadurch, dass wir das lebendige Denken in uns wirkend tragen, fähig gemacht, der Welt unser Sinnes- und Nervensystem entgegenzustellen, die Eindrücke, die im umliegenden  Äthers leben, in Spiegelbildern zu erzeugen und in unser Bewusstsein zu schmeißen. So dass also dieses Denken und Vorstellen des oberflächlichen Seelenlebens nichts anderes ist, als der Reflex der im Weltenäther lebenden Gedanken.“

Mit diesen Sätzen sind wir nun am Ende einer ersten Etappe der Beschreibung des menschlichen Ätherleibes angelangt, insofern darin die zweifache Funktion des Ätherleibes auf ihrer leiblichen, wie auch ihrer seelischen Seite skizziert ist: Der Ätherleib tötet die „lebendigen“ Gedanken des Weltenäthers ab und erzeugt dadurch das Gehirn. Auf der Grundlage des Gehirns erzeugt der Ätherleib sodann das „symptomatische“ Vorstellen des Seelenlebens, das nur aus Spiegelbildern des Weltenäthers besteht.

Der Leser mag nun möglicherweise kaum geneigt sein, die Betrachtung hier schon abzuschließen, zumal ja einer der ersten hier zitierten Sätze Rudolf Steiners bereits andeutete, dass es nicht nur das Gehirn, sondern der ganze Organismus ist, der vom menschlichen Ätherleib gestaltet wird.

Rudolf Steiner in Dornach am 26. Juni 1924 (a.a.O):
„Da drinnen (in dem Ätherleib des Menschen) sind noch die lebendigen Gedanken, in dem, was am Menschen bildet und organisiert“.

 

Kommentar:
Dies führt über die Bildung und Funktion des Nervensystems hinaus. Allerdings entsteht damit zugleich auch die Notwendigkeit einer Dreigliederung des menschlichen Organismus. Deren Entdeckung und Veröffentlichung hat Rudolf Steiner nach seinen eigenen Angaben mehr als dreißig Jahre geisteswissenschaftlicher Arbeit gekostet (Rudolf Steiner 1917).

Worin besteht die Notwendigkeit einer Dreigliederung des menschlichen Organismus?

Die knappest mögliche Begründung auf der Grundlage des soweit Dargestellten ist diese: Nur das Gehirn, oder besser gesagt: Nur die Nerven- und Sinnesorganisation wird in dieser Weise vom Ätherleib des Menschen gebildet und zur Grundlage des "symptomatischen" Vorstellens gemacht. Für die übrigen Bereiche des menschlichen Organismus kommen andersartige Einflüsse hinzu, so dass sich die Notwendigkeit einer Differenzierung, einer Gliederung des Organismus ergibt. 
Die Tätigkeit des Ätherleibes macht das Nerven- Sinnes-System des Menschen zum Träger des menschlichen Vorstellungslebens. Wir geben diesen Zusammenhang in den Worten Rudolf Steiners aus der allerersten schriftlichen Veröffentlichung der Dreigliederung des menschlichen Organismus von 1917 wieder:

Rudolf Steiner 1917 (Von Seelenrätseln, Kap. IV, Abs. 6):
„Wie nach dem Leibe hin das Vorstellen auf der Nerventätigkeit ruht, so strömt es von der anderen Seite her aus einem geistig Wesenhaften, das in Imaginationen sich enthüllt. Dieses geistig Wesenhafte ist, was in meinen Schriften der Äther- oder Lebensleib genannt wird. . . Und dieser Lebensleib (. . .) ist das Geistige, aus dem das Vorstellen des gewöhnlichen Bewusstseins von der Geburt bis zum Tode erfließt “.

 

Kommentar:
Für den Zusammenhanges des Vorstellens mit dem Organismus ist also das Nerven- Sinnes-System des Menschen die Grundlage. Und dieses ist, wie wir erfahren haben, eine Bildung des Ätherleibes. Und der Ätherleib selbst ist es, der die Gedanken hervorbringt. Die übersinnliche Anschauung des Ätherleibes wird hier als Imagination bezeichnet. Aus anderen Zusammenhängen wissen wir, dass Rudolf Steiner diesen Ausdruck nicht im herkömmlichen Sinne, sondern für die erste Stufe der Einweihung im Unterschied zum „Vorstellen des gewöhnlichen Bewusstseins“ verwendet. Im nun folgenden Satz wird deutlich, dass wir den Begriff des Nerven- Sinnes-Systems allerdings nicht auf das Gehirn oder den Kopf einschränken dürfen, sondern auf das gesamte Nervensystem, bis hinein in das Vegetativum der inneren Organe ausdehnen sollen:

Rudolf Steiner 1917(a.a.O):
„Die körperlichen Gegenstücke zum Seelischen des Vorstellens hat man in den Vorgängen des Nervensystems, mit ihrem Auslaufen in die Sinnesorgane einerseits und in die leibliche Innenorganisation andererseits zu sehen.“

 

Kommentar:
Die Vorgänge des Nervensystems müssen also mit ihren Ausläufern durch den ganzen Organismus hindurch, gewissermaßen von seiner äußersten Peripherie in den Sinnesorganen bis in seine „leibliche Innenorganisation“ hinein verfolgt werdenBei der Bildung und Wirkungsweise dessen, was hier die  „leibliche Innenorganisation“ des  menschlichen Organismus genannt wird, kommen aber zusätzlich andere organische und seelische Prozesse als die soweit Besprochenen in Betracht. Und insofern diese zusätzlichen organischen und seelischen Prozesse wesentliche Unterschiede in der Funktionsweise weiter Bereiche des Organismus bedingen, entsteht die Notwendigkeit einer gegliederten Betrachtung des menschlichen Organismus. Dies charakterisiert Rudolf Steiner (1917) in der folgenden Art.

Rudolf Steiner 1917(a.a.O):
„. . . so findet man, dass man . . . das Fühlen in Beziehung bringen muss zu demjenigen Lebensrhythmus, der in der Atmungstätigkeit seine Mitte hat und mit ihr zusammenhängt.“

 

Kommentar:
Das weist auf Gebiete des Körpers hin, die der Hauptsache nach unterhalb des Gehirnes liegen. Insbesondere weist es auf das Gebiet der Lunge und der Atemwege hin (und von dort aus auch auf die Atemwege innerhalb des Kopfes: Kehlkopf, Rachen, Nase, Nebenhöhlen, Stirnhöhlen und Mittelohr, um nur die Wichtigsten zu nennen).
Doch es wäre ein Missverständnis, wollte man die Zuordnung des Fühlens zum Atmungsrhythmus anatomisch deuten: Nicht umsonst spricht Rudolf Steiner ja vom Atmungs-Rhythmus, der als solcher nicht räumlich gedacht werden kann.

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Man hat dabei zu berücksichtigen, dass man zu dem angestrebten Ziele den Atmungsrhythmus  mit allem, was mit ihm zusammenhängt,  bis in die äußersten peripherischen Teile des Organismus verfolgen muss.“

 

Kommentar:
So essentiell ist ein sachgemäßes, nicht-anatomisches Verständnis dieser Aussage, dass Rudolf Steiner bei aller sonstigen, extremen Knappheit dieser ersten schriftlichen Veröffentlichung der Dreigliederung des menschlichen Organismus noch das folgende zur wissenschaftlichen Methodik seiner Forschungsergebnisse anfügt:

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Um auf diesem Gebiet zu konkreten Ergebnissen zu gelangen, müssen die Erfahrungen der physiologischen Forschung in einer Richtung verfolgt werden, welche heute noch vielfach ungewohnt ist. Erst wenn man dies vollbringt, werden alle Widersprüche verschwinden, die sich zunächst ergeben, wenn Fühlen und Atmungsrhythmus zusammengebracht werden. Was zunächst zum Widerspruch herausfordert, wird bei näherem Eingehen zum Beweis für diese Beziehung.“

 

Kommentar:
Um hier gleich Beispiele zu haben, sei auf die folgende Tatsache verwiesen: Es gibt unzählige Untersuchungen zur Nervenfunktion im Auge beim Sehvorgang, aber kaum irgendein Wissen darüber, was sich während des Sehvorganges bezüglich der Blutzirkulation im Auge  verändert. Die Blutzirkulation ist aber insofern ein Teil des Atmungsrhythmus, als das Atmen ja nur Sinn macht, wenn dabei Sauerstoff in das Blut aufgenommen und Kohlensäure aus dem Blut abgegeben wird. Würde man die rhythmischen Veränderungen der Blutzirkulation im Auge während des Sehvorganges erforschen, so könnte man unterscheiden zwischen dem, was das Auge erkenntnismäßig, und was es gefühlsmäßig beim Sehen vermittelt.

Doch Rudolf Steiner wählt ein anderes Beispiel.

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O): 
„Aus dem weiten Gebiet, das hier verfolgt werden muss, sei nur ein einziges Beispiel herausgehoben. Das Erleben des Musikalischen beruht auf einem Fühlen. Der Inhalt des musikalischen Gebildes aberlebt in dem Vorstellen, das durch die Wahrnehmung des Gehörs vermittelt wird.“

 

Kommentar:
Von dem, was „durch die Wahrnehmung des Gehörs vermittelt wird“ wissen wir ja schon aus dem Vorangegangenen, dass es ein ätherischer Inhalt ist. Doch was ist der seelische Inhalt des musikalischen Erlebens?

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Wodurch entsteht das musikalische Gefühls-Erlebnis? Die Vorstellung des Tongebildes, die auf Gehörorgan und Nervenvorgang beruht, ist noch nicht dieses musikalische Erlebnis. Das letztere entsteht, indem im Gehirn der Atmungsrhythmus in seiner Fortsetzung bis in dieses Organ hinein, sich begegnet mit dem, was durch Ohr und Nervensystem vollbracht wird. Und die Seele lebt nun nicht in dem bloß Gehörten und Vorgestellten, sondern sie lebt in dem Atmungsrhythmus; sie erlebt dasjenige, was im Atemrhythmus ausgelöst wird dadurch, dass gewissermaßen das im Nervensystem Vorgehende heranstößt an dieses rhythmische Leben.“

 

Kommentar
Wenn der Ätherleib zwar die Grundlage der Wahrnehmungen und des Vorstellens, und sogar der ganzen Gehirnbildung ist, was kommt bei der Entstehung des Gefühlslebens in geistiger Hinsicht zur Wirksamkeit des Ätherleibes hinzu? Mit welchen übersinnlichen Kräften müssen wir zusätzlich rechnen, wenn wir von der reinen Betrachtung des Nerven-Sinnes-Systems in der Richtung der leiblichen Innenorganisation absteigen?

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Das Fühlen des gewöhnlichen Bewusstseins ruht nach der Leibesseite hin auf dem rhythmischen Geschehen. Von der geistigen Seite her erfließt es aus einem Geistig-Wesenhaften, das innerhalb der anthroposophischen Forschung durch Methoden gefunden wird, welche ich in meinen Schriften als diejenige der Inspiration kennzeichne.“

 

Kommentar
Was meint Rudolf Steiner mit dem „Geistig-Wesenhaften“? Und was soll „Inspiration“ als Forschungs-Methode sein?

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Dem schauenden Bewusstsein offenbart sich in dem der Seele zugrunde liegenden, durch Inspiration zu erfassenden geistig Wesenhaften dasjenige, was dem Menschen als Geistwesen eigen ist über Geburt und Tod hinaus. Auf diesem Gebiete ist es, wo die Anthroposophie ihre geisteswissenschaftlichen Untersuchungen über die Unsterblichkeitsfrage anstellt. So wie im Leibe durch das rhythmische Geschehen sich der sterbliche Teil des fühlenden Menschenwesens offenbart, so in dem Inspirations-Inhalt des schauenden Bewusstseins der unsterbliche geistige Wesenskern.“

 

Kommentar
Wir erfahren hier also nicht nur, was der menschlichen Inkarnation unmittelbar praekonzeptionell als Bedingung vorangeht (die Formung des Ätherleibes aus dem Weltenäther). Wir erfahren nun auch, was der Inhalt der menschlichen Inkarnation ist: Das menschliche Geistwesen. Und wir nehmen zur Kenntnis, dass dieses Geistwesen nicht primär im Gehirn, sondern in den rhythmischen Prozessen des menschlichen Organismus west. Dabei wird klar, dass der Ausdruck „Inspiration“ hier nicht umgangssprachlich, sondern zur Unterscheidung vom gewöhnlichen Bewusstsein als Bezeichnung für eine zweite Stufe des übersinnlichen  Schauens gebraucht wird.

Es erhebt sich nun die Frage, wie sich die übrigen Teile  des Organismus zu dem soweit Geschilderten verhalten. Diesbezüglich kommen insbesondere die Stoffwechselvorgänge des Organismus in Betracht.

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Wie dann, wenn etwas „vorgestellt“ wird, sich ein Nervenvorgang abspielt, auf Grund dessen sich die Seele ihres Vorstellens bewusst wird, wie ferner dann, wenn etwas „gefühlt“ wird, eine Modifikation des Atemrhythmus verläuft, durch die Seele ein Gefühl auflebt: so geht, wenn etwas „gewollt“ wird, ein Stoffwechselvorgang vor sich, der die leibliche Grundlage ist für das als Wollen in der Seele Erlebte.“

 

Kommentar
Abermals wird deutlich, dass die Dreigliederung des menschlichen Organismus bei Rudolf Steiner nicht anatomisch, sondern funktional gemeint ist. Aber warum fällt uns ihr Verständnis so schwer?

Rudolf Steiner nennt hierfür Bewusstseins-Gründe:

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Nun ist in der Seele ein vollbewusstes waches Erleben nur für das vom Nervensystem vermittelte Vorstellen vorhanden. Was durch den Atmungsrhythmus vermittelt wird, das lebt im gewöhnlichen Bewusstsein in jener Stärke, welche die Traumvorstellungen haben. Dazu gehört alles Gefühlsartige, auch alle Affekte, alle Leidenschaften, und so weiter. Das Wollen, das auf Stoffwechselvorgängegestützt ist, wird in keinem höheren Grade bewusst erlebt als in jenem ganz dumpfen, der im Schlafe vorhanden ist.“

 

Kommentar
Offenbar sind dies die Gründe dafür, warum es bis heute in der Medizin und Psychologie nicht möglich ist, alle körperlichen Vorgänge als Grundlage des Seelenlebens zu sehen, sondern nur die Vorgänge des Nervensystems, und warum das Unterbewusste und die Vorgänge des Schlafes noch immer nicht als Bewusstseinsprozesse gedeutet werden.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die Nicht-Anerkennung des Wollens als eines eigenständigen Seelen-Vermögens. Diesen führt Rudolf Steiner(1917) als Ursache für den Irrtum der akademischen Psychologie seiner Zeit an:

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Das Wollen aber entfällt ganz (der) Aufmerksamkeit, weil diese sich nur auf Erscheinungen in derSeele richten will, in dem Wollen aber etwas liegt, was nicht in der Seele beschlossen ist, sondern mit dem die Seele eine Außenwelt miterlebt“

 

Kommentar
Ja, tatsächlich: Wenn wir etwas Wollen, so greifen wir über die Grenzen unseres Organismus hinaus in die Außenwelt ein, und schaffen dort „objektive“ Tatsachen, die mit unserem Seelischen und Organismus nur noch die Ursache, aber kein Qualitatives mehr gemein haben. Das verursacht weitere Schwierigkeiten für das gewöhnliche Bewusstsein, unser „Wollen“ als ein Seelisches zu Akzeptieren:
1. Haben wir es schwer, unser Handeln als Ausfluss unseres seelischen Wollens zu akzeptieren, wenn wir dessen Konsequenzen „nicht wollten“, mit anderen Worten: Wenn unser bewusstes Seelenleben es nicht als das von uns „Gewollte“ akzeptiert.
Diese Art der Nicht-Verarbeitung ungewollter Konsequenzen unseres Tuns ist eines der Hauptmerkmale des „Spießertums“. Es verwahrt sich pauschal gegen diese Richtung der Selbst-Analyse mittels des Vorwurfes der „Nest-Beschmutzung“. 
2. Haben wir die Tendenz, bereits innerhalb des Organismus Grenzen zu stecken, die uns zu einer Absonderung des Seelischen von einem Außer-Seelischen veranlassen. Diese Tendenz wird von der gegenwärtigen Wissenschaft mitgetragen.

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„(Die naturwissenschaftliche Psychologie) lässt als Seelisches nur dasjenige gelten, was zu Nervenvorgängen in Beziehung steht.“

Von dort her übernehmen wir auch im Alltag die Tendenz, insbesondere die Organe oder Organ-Teile vom Seelischen auszuschließen, die eine Ähnlichkeit mit den technischen Hilfsmitteln unseres Tuns aufweisen. So scheint uns kein wesentlicher Unterschied zu bestehen, ob wir mit dem Finger, oder mittels eines Stiftes, den wir mit den Fingern halten, im Sand oder auf einem anderen geeigneten Untergrund schreiben. Im einen Fall greift aber der Mensch mittels des Wollens direkt auf den Leib, im anderen Fall indirekt auf ein technisches Hilfsmittel zu.

Die damit charakterisierte Abtrennung des Seelischen von einem Außer-Seelischen innerhalb der Grenzen des Organismus gipfelt in dem heute weit verbreiteten Dualismus von „Gehirn und Körper“, der nicht nur den geistigen Ursprung des physischen Körpers verleugnet. In letzter Konsequenz verleiht dieser Dualismus dem Gehirn den Status eines „Geistigen“, und allen anderen Gliedern des Körpers den Status eines „Ungeistigen“. Das Denken fällt damit auf die alte Spaltung von „Körper und Geist“ zurück.

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Der Leib als Ganzes, nicht bloß die in ihm eingeschlossene Nerventätigkeit ist Grundlage des Seelenlebens.“

- Im Grunde genommen ist das damit gestellte Problem bereits vorhanden, wenn wir äußere Sinneswahrnehmungen verstehen wollen: Hier verläuft die Richtung einfach nur umgekehrt zur Willensrichtung: Wenn eine Qualität der Außenwelt unsere Sinnesorgane beeinflusst, und wir daraus ein innerseelisches Erlebnis gewinnen, sind wir wiederum kaum geneigt, von einer seelischen Aktivität zu sprechen: Wir sehen Rot, wir sehen Blau, und indem wir dies tun, halten wir die genannten Qualitäten für „objektive“ Eigenschaften der Welt. Aber das „Rot“, und das „Blau“, das wir dort draußen sehen, das gibt es nur in unserer Seele, und jeder Vergleich des Auges mit einer Kamera oder des Gehirns mit einem Computer ist in grundlegender Weise absurd: Nicht das Auge, und nicht das Gehirn, sondern nur die Seele nimmt die Eigenschaften der Welt als Sinnesqualitäten wahr, und dies kann sie nur, wenn sie in einem menschlichen Körper inkarniert ist und die Sinnesorgane intakt sind. Die Tatsache, dass die organischen Veränderungen im Auge beim Sehen, die reproduzierbar mit „objektiven“ Eigenschaften der Außenwelt korrelieren, uns weder bewusst, noch durch uns willkürlich steuerbar sind, darf unseren Begriff des „Seelischen“ nicht erschüttern. Denn dieser muss auch den Begriff des Unbewusst-Seelischen enthalten, wenn er wirklichkeitsgemäß sein will.

 

Damit kommen wir zum Ende unserer Betrachtung, nämlich zur Frage, welchen Bezug das Unterbewusste im Menschen zu seiner höheren, zu seiner übersinnlich-geistigen Natur hat.

Rudolf Steiner 1917 (a.a.O):
„Was im Leib durch die gewissermaßen niederste Betätigung des Stoffwechsels sich offenbart, dem entspricht im Geiste ein Höchstes: dasjenige, was durch Intuition sich ausspricht. Daher kommt das Vorstellen, das auf der Nerventätigkeit beruht, leiblich fast vollkommen zur Darstellung; das Wollen hat in den ihm leiblich zugeordneten Stoffwechselvorgängen nur einen schwachen Abglanz. Das wirkliche Vorstellen ist das lebendige; das leiblich bedingte ist das abgelähmte. Der Inhalt ist derselbe. Das wirkliche Wollen, auch das sich in der physischen Welt verwirklichende, verläuft in den Regionen, die nur dem intuitiven Schauen zugänglich sind; sein leibliches Gegenstück hat mit seinem Inhalt fast gar nichts zu tun. In demjenigen geistig Wesenhaften, das der Intuition sich offenbart, ist enthalten, was sich aus vorangegangenen Erdenleben in die folgenden hinübererstreckt. Und auf dem hier in Betracht kommenden Gebiet ist es, wo die Anthroposophie sich den Fragen der wiederholten Erdenleben und der Schicksalsfrage nähert.“

 

Kommentar:
Wir werden durch die Texte Rudolf Steiners mit einer bildhaften Ahnung davon bekannt macht, wie die menschlichen Gedanken und Erkenntnisse mit dem Weltenäther zusammenhängen, und damit  im Weltganzen beheimatet sind. In diesem Zusammenhang, der ja den Bau des Gehirnes in überraschender Weise mit einschließt, liegen die Quellen für die fundamentale Erkenntnis-Sicherheit, der wir im Werk Rudolf Steiners unerlässlich begegnen. Man kann diese Sicherheit als einen übersinnlich fundierten erkenntnistheoretischen Realismus bezeichnen. 
Nun aber, nachdem wir auf die ganze menschliche Organisation, und nicht nur auf das Gehirn geblickt haben, trifft uns eine zweite, viel größere Überraschung. Diese besteht darin, dass nur das, was uns am Menschen schon immer  als das Edelste erschien, das menschliche Gehirn, nahezu ausschließlich durch den Ätherleib bestimmt wird. Auch die übrigen Bereiche des menschlichen Leibes werden zwar vom Ätherleib gebildet und organisiert. Aber je weiter wir in der Betrachtung des menschlichen Leibes vom Nerven-Sinnes-System „abwärts“ zur rhythmischen Organisation des Menschen kommen, desto mehr wird die Tätigkeit des Ätherleibes von den Wirkungen des unsterblichen geistigen Wesenskernsdes Menschen überformt. Mit der rhythmischen Organisation des Menschen betreten wir das leibliche Gebiet dessen, was wir im "symptomatischen" Seelenleben als unser Fühlen erleben. Doch zugleich damit, dass hier ein höheres Wesen als der Ätherleib mächtig wird, dämpft sich unser Bewusstsein zur Dumpfheit von Traumvorstellungen herab. 
Das Geistig-Wesenhafte, das dem menschlichen Fühlen zugrunde liegt, wird in der anthroposophischen Terminologie als der „Astralleib“ des Menschen bezeichnet. Dieser Ausdruck ist einer älteren esoterischen Tradition entnommen, die Rudolf Steiner in den folgenden Worten charakterisiert:

Rudolf Steiner in „Das Matthäus-Evangelium“ (GA 123), S. 58:
„Deshalb nannten auch die mittelalterlichen Okkultisten diesen geistigen Leib des Menschen den astralischen Leib, weil er verbunden ist mit den Sternenwelten und aus ihnen seine Kräfte saugt.“

Der Bezug des Menschen zu den Sternenwelten ist uns hier zuerst bei Rudolf Steiners Einführung des Ätherleibes begegnet, insofern dieser dem Weltenäther entnommen wird. Doch dieser Weltenäther ist, nicht räumlich, sondern qualitativ, doch mehr oder weniger dem kosmischen Umkreis des Erdorganismus einschließlich des Mondes zuzuordnen. Die Sternenwelt des Astralleibes hingegen umfasst die Planetenbewegungen unseres ganzen Sonnensystems . 
Steigen wir nun von dort noch weiter "abwärts" innerhalb des menschlichen Organismus, so betreten wir ein Gebiet, innerhalb dessen nicht nur lebendige Gedanken in tote Substanz verwandelt, und nicht nur lebendige Bewegung in Rhythmen gegliedert wird. Hier wird, indem selbst die lebendige Rhythmik des Organismus noch überformt wird, die vom Ätherleib abgetötete Substanz wiederum in eine lebendige verwandelt. Dieses gewissermaßen „unterste“ Gebiet des menschlichen Organismus wird abgekürzt auch als das Stoffwechselsystem des Menschen bezeichnet. Und hier begegnen wir der ultimativen Überraschung unserer Erkundung: Hier liegen die leiblichen Grundlagen dessen, was Rudolf Steiner das seelische Wollen nennt. Und während die naturwissenschaftliche Psychologie diesem Wollen, wie wir gezeigt haben, jegliche Selbständigkeit innerhalb des Seelischen abspricht, gilt es der Anthroposophie als der Wirkort der allerhöchsten geistigen Wesenheit innerhalb des Menschen, als der  Wirkort des „Ich“

Man beachte aber genauestens: Das Wirken des Ich ist unbewusst, nicht aber seine Denktätigkeit: Im gegenwärtigen Stadium der Evolution kann aber das denkend erkennende Ich noch nicht leben in den Wirkungen des Organismus. Von der Nichtachtung dieses Unterschiedes kommen die Missverständnisse der modernen Gehirnforschung und auch der Philosophie: Wenn zum Beispiel das Gehirn oder irgend ein anderes Organ des Organismus eine uns unbewusst bleibende Leistung vollbringt, spo widerspricht dies nicht der Willensfreiheit. Denn das ich ist auch unterhalb der Bewusstseinsschwelle frei. Dieses „Ich“ des Menschen ist ebenfalls kosmischer Herkunft, aber seine Heimat ist nicht auf die Planetenbewegungen unseres Sonnensystems beschränkt, sondern liegt jenseits des Fixsternhimmels.

Rudolf Steiner in "Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus" (GA 218, S. 24):
„Aus dem Planetenerlebnis bekommt man (. . . ) die Durchfeuerung der Atmungsprozesse und des Blutzirkulationsprozesses. Dass aber diese Prozesse substantiell sind, dass sie durchsetzt werden von dem, was sie brauchen von Substanz, dass also diese Prozesse fortwährend Ernährungsprozesse des Organismus auch sind, dieses Forttreiben der Nahrungsmittel durch den Organismus, das ja scheinbar das Materiellste ist, das aber aus höheren Kräften heraus ist als die bloße Bewegung der Blutzirkulation, dieses beruht in seiner Anfeuerung für das Tagesleben auf einem Nachwirken des Fixsternerlebnisses. Wie wir als physische Menschen abhängig sind in unserem Geistig-Seelischen von der Art und Weise, wie diese oder jene Stoffe in uns zirkulieren, hängt (. . .) mit höchsten Himmeln zusammen, hängt damit zusammen, dass wir als geistig-seelische Wesen im dritten Stadium des Schlafes in uns fühlen Nachbilder der Fixsternkonstellationen.“

 

Kommentar:
Hier ist, scheinbar inkonsequent, von den Schlaferlebnissen des „Ich“ die Rede. Aber es war doch ohnehin der Kern unserer Überraschung, dass die anthroposophischen Mitteilungen über das menschliche „Ich“ ergeben, dass dessen Wirken im Organismus von Seiten des gewöhnlichen Bewusstseins nur mit der seelischen Dumpfheit erlebt werden kann, die dem traumlosen Schlaf entspricht. Was wir als den „Schlafzustand“ im herkömmlichen Sinne kennen, ist also nichts weiter als die Ausdehnung des „Wollens“ vom Stoffwechsel-Gliedmaßen-System her auf den ganzen Organismus, die sich tagesrhythmisch wiederholt. Die regelmäßige Wiederholung des Schlafzustandes ist eine Notwendigkeit für das „Ich“ des Menschen. Indem es regelmäßig zum Erleben des Fixsternhimmels zurückkehrt, erholt es sich vom Chaos und der Fremdheit der irdischen Lebensverhältnisse und kann nur dadurch immer wieder der Quell unserer Initiative sein.
Je klarer wir dies alles vor uns hingestellt sehen, desto dringender wird uns die Frage nach dem „Wollen“ des Menschen, das offenbar zugleich unser Tiefstes und Höchstes ist, und dessen Wirksamkeit wir offenbar mit dem gewöhnlichen Bewusstsein immerzu „verschlafen“. Was ist dieses „Wollen“, wo finden wir es im täglichen Leben?

Rudolf Steiner in "Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus" (GA 218, S. 16):
„Was der Mensch in seinen Vorstellungs- und Empfindungskräften während des Tagwachens als Initiativkräfte tragen kann, alles das ist Nachwirkung des Fixsternerlebnisses während der Nacht. (. . . ) Unsere Nahrungsmittel würden nicht so in das Gehirn kommen, dass sie uns befeuern würden, Initiativkräfte zu entwickeln, wenn nicht dieser ganze Prozess angefeuert würde durch das, was wir nächtlich erleben durch das Sternerlebnis.“

 

Kommentar:
Also könnte man unser „Wollen“ auch als unsere „Initiativkräfte“ bezeichnen, die, von uns selber unbemerkt, alles das befeuern, wozu uns tagtäglich unsere Vorstellungs- und Empfindungskräfte tagtäglich die "symptomatischen" Seeleninhalte geben. 
Doch das Wort „Initiativkräfte“ führt uns auch an den Anfang unserer Betrachtung zurück, denn es ist aus dem Wortstamm  „Initium“ = Anfang gebildet. Hatten wir nicht ganz zu Anfang versäumt, zu fragen, wer denn den Ätherleib aus dem Weltenäther entnimmt, um eine erneute Inkarnation vorzubereiten? - Dies kann natürlich nur die Kraft des „Wollens“ sein, die Äußerung unseres höchsten Wesenskernes, unseres “Ich“, also des Geistig-Wesenhaften,( . . . ), das sich aus vorangegangenen Erdenleben in die folgenden hinübererstreckt.“

So werden wir letztendlich noch weiter zurück, nämlich zum Auftakt dieser Betrachtung geführt, dem eingangs zitierten Wochenspruch aus dem „Anthroposophischen Seelenkalender“. Er hat offenbar ebenfalls, nun aber dichterisch, die Kraft des Wollens zum Inhalt. Doch nun sind wir, wie das sich ständig wandelnde Leben selbst, schon eine Woche weiter, und lesen im „Seelenkalender“ :

 

30. März 1913

Wenn aus den Seelentiefen
Der Geist sich wendet zu dem Weltensein
Und Schönheit quillt aus Raumesweiten,
Dann zieht aus Himmelsfernen
Des Lebens Kraft in Menschenleiber
Und einet, machtvoll wirkend,
Des Geistes Wesen mit dem Menschensein.

(Rudolf Steiner: Anthroposophischer Seelenkalender, 1. Auflage 1912/13)

 

*) Anmerkung: Mit dem Begriff des "Außertellurischen" hat es folgende Bewandtnis: Aus anthroposophischer Sicht ist das, was wir heute den "Kosmos" nennen, nur die tote Außenseite des Außerirdischen. Schon in urfernen Zeiten wurde die Innenseite des Kosmos von den Mystikern als ein unendlich großes, zeitloses Lebewesen geschaut. Dieses unendlich große und zeitlose Lebewesen wird auch als die "Akasha-Chronik" bezeichnet, in der alle Ereignisse der Welt für immer lebendig bleiben. 
Das Schauen der Innenseite des Kosmos war "geheim". "Geheim" war es nicht, weil man es für sich behalten wollte, sondern weil dieses Schauen nur durch spezifische Vorbereitungsübungen der Seele erreichbar ist. Aber es war auch geheim, weil es den "Baum des Lebens" offenbart, von dem im 1. Buch Moses in der "Genesis" die Rede ist. Von der "Innenansicht" des "Kosmos" der Mystiker aus ist das, was Rudolf Steiner als die "schöne Hypothese" der heutigen Naturwissenschaft vom "kosmischen" Ursprung des Lebens kritisiert, vollkommen surreal, denn der äußere (der tote) Kosmos ist absolut lebensfeindlich.

 

Heileurythmie

Theosophie