Die Sinnlichkeit des Menschen

 

 

Der physische Leib des Menschen als Instrument der freien Weltzuwendung des Ich

 

In diesem Aufsatz finden Sie meinen Versuch, die Sinneslehre der Anthroposophie für die Selbst- und Welterkenntnis nutzbar zu machen. Er ist abgedruckt im "Jahrbuch für Goetheanismus 2014", das vom Tycho-Brahe-Verlag, Am Eichhof 20, 72335 Niedern-Öschelbronn, herausgegeben und für € 24,50 zugeschickt wird.

                                      Stand: 8.8.2014

 

 

 

 

»Das ist das erste Kapitel der Anthroposophie:

Die wirkliche Natur und Wesenheit unserer Sinne«.

   Rudolf Steiner(1909a) 

 

Nicht wenige Leser werden erstaunt sein, manche sich sogar provoziert fühlen durch die erste Zeile dieser Schrift. Was bringt eine Betrachtung der »Sinnlichkeit des Menschen«?

 

In der geistigen Landschaft unserer Zeit treten zwei Extreme hervor: Auf der einen Seite sehen wir die großen Weltreligionen, die sich auf uralte Überlieferungen beziehen. Diese sind keiner weiteren Verwandlung mehr zugänglich, als sei die Offenbarung der Wahrheit ein einmaliges Ereignis der Menschheitsgeschichte. Ihrer hoch entwickelten, aber extrem konservativen »Theologie« steht nicht nur eine lebendige, dynamisch sich wandelnde Menschheit, sondern auch eine ebenso dynamische Naturwissenschaft gegenüber. Letztere sucht ihre Erkenntnisquellen allerdings nicht im Menschen, sondern zumeist unterhalb desselben, im Chemielabor,  in der toten Substanz oder unter dem Mikroskop in der fixierten Gestalt des verwesenden Menschen. (Mit »Verwesen« ist hier der Verlust des Lebens und der seelischen Empfindung des Leibes als unausweichliche Konsequenz der Fixierung gemeint.) So stellt sich der Naturwissenschaft Atom neben Atom, Molekül neben Molekül, Zelle neben Zelle, Organ neben Organ vor- Das ist der Blick von unten. Bloß »von unten« gesehen kann sich aber der eigentliche, leiblich-seelisch-geistige Mensch nicht offenbaren. »Anthroposophie« will deshalb vom Menschen selbst ausgehen, will gleichgewichtig aus einer mittleren Perspektive schauen, die zwischen der quasi göttlichen Sicht der Weltreligionen und der quasi untermenschlichen Perspektive der Naturwissenschaften steht. 

 

 

1. Der populäre Begriff des Sinnlichen

 

Auf den Laien, das heißt auf den wissenschaftlich unvorbereiteten Menschen, wirkt der Begriff der Sinnlichkeit vor allem deshalb provozierend, weil er traditionell von zwei Seiten her, durch moralisierende und reißerische Untertöne verwirrt ist. Um welche Verwirrung handelt es sich?

 

Aus der Sicht der großen Weltreligionen ist es sachgemäß, die Sinnlichkeit dem Begriff des Übersinnlichen, also dem Begriff des Kosmisch-Göttlichen, polar gegenüber zu stellen. Man braucht eine klare Unterscheidung zwischen den Schöpfermächten der Welt und deren Werk: Nur die Schöpfung ist unmittelbar den Sinnen zugänglich, nicht aber die kosmisch-göttlichen Schöpfermächte. Deshalb haben die großen Weltreligionen allem Sinnlichen schon immer die Eigenschaft des Illusionären, der »Maja«, und damit die Eigenschaft zugeschrieben, den Menschen vom »rechten« Wege ab und dem Irrtum zuzuführen. 

 

Doch für den Laien hat der Begriff der Sinnlichkeit noch eine zweite Seite, da er sie mit den Instinkten, Trieben und Begierden des Menschen verwechselt. Deshalb brauchen wir zuerst eine Klärung der Frage, was Instinkte, Triebe und Begierden sind, bevor wir uns ganz auf die Sinnlichkeit als solche konzentrieren können.

 

Was sind Instinkte, Triebe und Begierden? Das Sinnesleben ist die Grundlage des Erkenntnisstrebens des Menschen, weil die Wahrheit ihren Grund nur in sich selbst, also nur jenseits der Willkür des "Ich" haben kann. Die Wahrheit muss also über die Sinne gefunden und durch das Ich im selbstlosen Denken aus den Reichen des Nicht-Ich erobert werden. Davon ist qualitativ das Willensleben des Menschen zu unterscheiden (aber nicht zu trennen, da beide ineinander verwoben sind). Der Wille des Menschen kommt nicht aus der Welt, sondern aus den unterbewussten Tiefen seiner Seele. Was Erkenntnis und Erkenntnisarbeit ist, scheint den meisten Menschen selbstverständlich. Doch was ist das Willensleben? 

 

Betrachten wir hierzu als erstes Beispiel, wie ein Biber einen Baum fällt. Dazu benutzt er instinktiv seine riesigen Nagezähne, weil diese bei ihm speziell für das Baumfällen geformt sind. Instinkte ergeben sich also unmittelbar aus der Gestalt des physischen Leibes. Als Instinkt kann man ein Wollen bezeichnen, das tief unterbewusst verläuft. Aus anthroposophischer Sicht ist also der Wille nicht das, was wir uns vorstellen, bevor wir etwas tun, sondern dieses Tun selbst. Und insofern unser Wollen durch Vorstellungen geformt wird, ist es die Verwirklichung unserer Vorstellungen im Tun. Damit übereinstimmend können unsere Vorstellungen nicht mehr als die Vorilder unseres Wollens, aber nicht dieses selbst sein. Innerhalb des Willenslebens sind Instinkthandlungen die dumpfeste Stufe des Wollens, da sie bereits in der Vererbung, genauer gesagt in der räumlichen Gestalt des physischen Leibes veranlagt sind. Sie werden nicht einmal als Vorstellungen bewusst, obwohl sie sehr abstrakt und auch sehr »denkerisch« sein können: So habe ich zum Beispiel Wespen beobachtet, die eine Fliege erbeutet hatten, dann aber bemerken mussten, dass sie dieselbe wegen des Windes nicht abtransportieren konnten und ihnen deshalb noch nachträglich die Flügel abbissen.

 

Nehmen wir als weiteres Beispiel hinzu, wie der Biber im Frühjahr bei steigenden Außentemperaturen aus dem Winterschlaf erwacht und durch den Trieb zum Bäumefällen aktiviert ist, der während des Winterschlafes gehemmt war.

 

Auch Triebe sind vererbt. Aber sie bestimmen nicht wie, sondern wann im Jahreslauf eine bestimmte Handlung auszuführen ist. Triebe bestimmen also die Bereitschaft zum Handeln, und diese Bereitschaft ist in die Zeitstrukturen des Erdorganismus, zum Beispiel in den Zusammenklang der Körperrhythmen mit dem zeitlichen Temperaturverlauf in den Jahresrhythmus integriert. Die umfassende zeitliche Koordination aller Prozesse des physischen Leibes ist also ebenso vererbt wie dessen räumliche Gestalt, aber von dieser deutlich zu unterscheiden.

 

Der Organisationszusammenhang, der die Zeitstruktur der Lebensprozesse bestimmt und mit den Umweltbedingungen koordiniert, bezeichnet man in der Anthroposophie nach dem Vorbild des ARISTOTELES als den Lebens- oder auch Ätherleib. Dieser ist mächtiger als der physische Leib, insofern er letzterem das Leben und die Gestalt  gibt und erhält. Als »Bildner« der Substanzen, Prozesse und Formen des physischen Leibes ist er aber selbst nicht sinnlich sichtbar, da er kosmischen Ursprungs ist.

 

Erst wenn der Ätherleib im Tode zerfällt, wird nachträglich aus der nun einsetzenden Verwesung des physischen Leibes ersichtlich, welch intensive Tätigkeit er im Aufbau, im Gestalten und im Erhalten des physischen Leibes während des Lebens aufgebracht hat. Das wird besonders in der Schwangerschaft, bei äußeren Verletzungen, Knochenbrüchen und Krankheiten in den embryonal- und Heilungsvorgängen deutlich, denn wir Ärzte wissen ja nicht einmal, wie ein Knochenbruch, den wir eingipsen, oder wie ein Hautschnitt, den wir einfach zunähen, letztendlich heilt!

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Als drittes Beispiel zum Willensbegriff nehmen wir den Moment, in dem der aus dem Winterschlaf erwachende Biber einen geeigneten Baum erblickt. Augenblicklich entfacht dieser Anblick im Biber die Begierde, diesen Baum zu fällen. 

 

Begierden sind also Willensimpulse, die aus dem latent vorhandenen Begehren durch aktuelle Empfindungen, Bedürfnisse und Leidenschaften hervorgerufen werden. Der leibliche Träger dieser Begierden und Leidenschaften wird in der Anthroposophie als Empfindungs- oder Astralleib bezeichnet, weil jede Wissenschaft ihr spezielles Vokabular hat und weil dieser Begriff durch den großen Mystiker PARACELSUS geprägt wurde, als er entdeckte, dass der Begierdeleib des Menschen und der Tiere nicht aus unserer irdischen, sondern aus der kosmischen Welt stammt. (Das Panorama der kosmischen Astralleiber wurde schon von je her als der "Tierkreis" bezeichnet.)

 

Dieser besondere Empfindung- oder Astralleib ist wegen seiner kosmischen Herkunft ebenfalls nicht sinnlich sichtbar. Ohne ihn könnte weder der Mensch noch das Tier Wahrnehmungen, Leidenschaften oder Begierden haben. Im Tier ist der Astral- oder Empfindungsleib das höchste übersinnliche Glied. Doch der Mensch hat noch weitere übersinnliche Glieder, wie sich an folgenden Beispielen zeigen lässt: Das Ich des Menschen schwächt die Begierden des Empfindungsleibes ab und verwandelt sie dadurch in individuelle »Motive«. Während Instinkte, Triebe und Begierden ihre Ursachen in den drei Gliedern des Leibes – im physischen Leib, Lebensleib und Empfindungsleib – haben, werden die Motive vom »Ich«, dem innersten Kern der menschlichen Seele, entwickelt und Taten umgesetzt. So kann der eine Mensch technische, ein anderer künstlerische, soziale oder wissenschaftliche »Motive« entwickeln und umsetzen. Individuelle Handlungsmotive, die nur der Mensch, aber nicht das Tier entwickelt, sind im Unterschied zu den Begierden mehr oder weniger unabhängig von aktuellen Sinneseindrücken und können den Menschen ein ganzes Leben lang seelisch erfüllen. 

 

In einem fünften Hinblick auf den Willen lässt sich bemerken, wie der Mensch des morgens nach dem Schlaf mutigere, kreativere und möglicherweise sogar selbstlosere Entscheidungen fällt, als ihm noch am Abend vor dem Einschlafen möglich war. In der modernen Psychologie nennt man dieses Phänomen den »Morning Morality Effect« (Kouchaki & Smith 2014). Auch wenn dieser Effekt nicht ohne Urteile, Ideen und Erinnerungen auftritt, offenbart sich in ihm die Willenswirksamkeit des höheren Ich, Geistselbst des Menschen. Das Geistselbst (auch Manas genannt) ist das unterste der drei Geistglieder des Menschen, Der Mensch hat also drei Leibes-, drei Seelen-, und drei Geistglieder. Als ein solches ist das Geistselbst vorerst noch wenig entwickelt (Steiner1904, 1919a). 

 

Die Verwirrung des populären Sinnlichkeitsbegriffes ist also eine doppelte: Erstens wird der Sinnlichkeit unter dem Einfluss der großen Weltreligionen ein illusionärer Charakter, zweitens der Egoismus des Willens zugeschrieben. Das Gegenteil ist aber der Fall: Die Sinne öffnen die menschliche Seele für die Außenwelt, und helfen damit dem Menschen, das Geistige aufzunehmen, die Not der Mitmenschen wahrzunehmen und die Illusionen über das eigene Selbst zu überwinden.

 

Die genannte doppelte Verwirrung des Sinnlichkeitsbegriffes trübt das kollektive Bewusstsein der Menschheit und wird in der Werbung, Berichterstattung und Unterhaltungskultur für die unterbewusste Manipulation der Massen ausgenutzt. Dem lässt sich nur durch eine differenzierte Entwicklung Sinnlichkeit  begegnen.

 

 

 

2. Der wissenschaftliche Begriff des Sinnlichen

 

 

Philosophie ist die Wissenschaft der Wissenschaft. Ihre Aufgabe ist, Urteile darüber zu bilden, welcher Erkenntniswert den einzelnen Spezialwissenschaften beizumessen ist. Als Repräsentanten der heutigen, naturwissenschaftlich orientierten Philosophie wählen wir Thomas Metzinger, den Präsidenten der Association for the Scientific Study of Consciousness, einer internationalen wissenschaftlichen Gesellschaft zur Erforschung des Bewusstseins. Er hält Vorlesungen über die Philosophie des Bewusstseins als Lehrstuhlinhaber für theoretische Philosophie an der Universität Mainz und leitet diese mit einer Untersuchung der Sinne ein. Aus seinem neuesten Buch zitieren wir hierzu: »Das bewusste Gehirn ist eine biologische Maschine – ein Wirklichkeitsgenerator, der vorgibt, uns zu sagen, was existiert und was nicht existiert [...]« (Metzinger 2009).

 

Wie kommt Metzinger darauf, das Gehirn des Menschen als eine "bewusste  Maschine" zu bezeichnen? Kann denn eine Maschine bewusst sein? Nach Ansicht des Philosophen Marcus Gabriel ist das Gehirn kein bewusstseinsfähiges Wesen, sondern nur ein Werkzeug des Bewusstseins, wie etwa ein Fahrrad ein Werkzeug des Menschen zum Fahrradfahren ist. Und ebensowenig, wie ein Fahrrad Fahrradfahren kann, sondern nur der Fahrradfahrer, so wenig kann das Gehirn bewusst sein ohne die Seele. Diese – wir bringen das Wort kaum über die Lippen: laut Metzinger »bewusste« Maschine des Gehirns– sagt uns aber laut Metzinger nicht selbst, »was existiert und was nicht existiert«, sondern gibt nur vor, dies zu tun. So fragt man sich umsonst: Wenn das Gehirn nur vorgibt, etwas zu sagen, wer sagt dann tatsächlich etwas? – Sollte man hier vielleicht Mutmaßen, dass es das kollektive Bewusstsein der Wissenschaftler ist, das uns vorgibt, was sein kann, und was nicht? - Wenn das der Fall sein sollte, dann besteht hier allerhöchster Ideologie-Verdacht!

 

Das darauf bei Metzinger Folgende ist allerdings noch unklarer: 

»Es ist anfänglich vielleicht beunruhigend, zu entdecken und erstmals wirklich zu verstehen, dass es vor unseren Augen keine Farben gibt. Das zarte aprikosenfarbene Rosa der untergehenden Sonne ist keine Eigenschaft des Abendhimmels; es ist eine Eigenschaft des inneren Modells des Abendhimmels, eines Modells, das durch unser Gehirn erzeugt wird. Der Abendhimmel ist farblos. In der Außenwelt gibt es überhaupt keine farbigen Gegenstände. Es ist alles genau so, wie es uns schon der Physiklehrer in der Schule gesagt hat: Da draußen, vor Ihren Augen, gibt es nur einen Ozean aus elektromagnetischer Strahlung, eine wild wogende Mischung verschiedener Wellenlängen [...].«(Metzinger2009: 38).

Uns erhebt sich sogleich die Frage Hat Metzinger am Physik-Unterricht wirklich bis zum Abitur teilgenommen?[1]

 

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Anmerkung 1:

[1]Kurioserweise ist eines der berühmtesten Experimente zur Begründung der Relativitätstheorie Albert Einsteins, der Michelson-Morley Versuch von 1887, auf der sinnlichen Beobachtung eines rot-blauen Streifenmusters aufgebaut. Deshalb hat es auch Eingang in den regulären Physikunterricht gefunden und wird heute in Deutschland als Abiturwissen vorausgesetzt (Reimbold 2013).

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Schon die wenigen, oben zitierten Worte aus dem Buch Metzingers ergeben also Dutzende von unbeantworteten Fragen: Warum zum Beispiel sollte es speziell die Farben des Abendhimmels nicht geben? Gibt es dann aber diesen Abendhimmel als solchen, also in seiner farblosen Variante, dennoch?  Hatte Metzinger bei seiner Behauptung wirklich vorausgesehen und bewusst in Kauf genommen, dass, wenn die Farben des Abendhimmels nicht existieren, es auch diesen Abendhimmel selbst nicht geben kann? Woraus, außer seinen Farben, besteht denn die Wahrnehmung eines Abendhimmels? Existieren seine weiteren Eigenschaften, zum Beispiel die Kontur des Horizontes, die Temperatur und Gerüche der Abendluft, die Kühle des Abends, die Müdigkeit, die wir zur Abendstunde empfinden, der Hunger, der Durst und alles, was noch zur Abendstunde einschließlich der Uhr gehört, auf der wir feststellen, dass es Abend ist? – Nach allem, was man von dem als Autorität zitierten Physiklehrer in der Schule erwarten dürfte, wäre ja wohl damit auch gesagt, dass nicht nur die Farben, sondern dieser ganze Abend mit allem Drum und Dran nur eine »wild wogende Mischung verschiedener Wellenlängen« ist und damit ebenfalls nicht existiert. Doch sollte dies so sein, so wäre auch die nächste daraus folgende Frage unvermeidlich: Werden hier letztlich alle Sinneswahrnehmungen als nicht existent bezeichnet? – Sollte dies zutreffen, wie stünde es dann um die Existenz des zitierten Physiklehrers und der Worte, die er ausspricht? Sind sie nicht ebenfalls von der selben Art wie die Farben des Abendhimmels, nämlich zunächst nur als Sinneswahrnehmungen entgegenzunehmen? Und wie steht es dann um die Existenz des Buch-Autors Metzinger? – Warum sollten wir bei dieser Beweislage immer noch glauben, dass, was wir in Metzingers Buch lesen, dort überhaupt steht, wo doch auch die Buchstaben und Worte dieses Buches – wie schon dieses Buch selbst – nur Sinneswahrnehmungen sind, unabhängig vom geschriebenen Inhalt und unabhängig von der Tageszeit?

 

Eine erste Antwort auf alle diese dringlichen Fragen könnte man schon im vorderen Klappentext des erwähnten Buches Metzingers erhoffen, denn dort steht: »Das Selbst existiert nicht. Das bewusst erlebte Ich wird lediglich von unserem Gehirn erzeugt, und was wir wahrnehmen, ist nichts als ein virtuelles Selbst in einer virtuellen Realität«.

 

Hier bezeichnet Metzinger nicht nur die Wahrnehmungen des Ich und dieses selbst, sondern auch die wahrzunehmende Realität als virtuell, wobei klar sein dürfte, dass dann, wenn man das Letztere tut, auch das Gehirn nur noch virtuell existiert. 

 

 

 

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Anmerkung[2]Der philosophische Terminus des »Solipsismus« ist gebildet aus lateinisch »Solus« (allein) und »ipse« (selbst). Unter Solipsismus wird zumeist ein radikaler erkenntnistheoretischer Idealismus verstanden, der nicht nur eine vom Bewusstsein unabhängige Außenwelt leugnet, sondern Bewusstsein darüber hinaus mit dem eigenen Bewusstsein gleichsetzt.

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Kopfschüttelnd wenden wir uns von Metzinger ab und der Geschichte zu, um zu erfragen, ob denn Philosophie wenigstens irgendwann früher einmal eine Wissenschaft war, die den Naturwissenschaftlern sagen konnte, was ihre Erkenntnisse wert sind. Dabei stoßen wir unvermeidlich auf Immanuel Kant(1724–1804), der nahezu unwidersprochen als der Begründer der Erkenntnistheorie im modernen Sinne des Wortes gilt (Steiner1892). In seinem Hauptwerk »Kritik der reinen Vernunft« (1781) kommt aber auch er schon zu dem Ergebnis, dass alle uns über die Sinne oder den Verstand gegebenen Gegenstände gleichermaßen nur Vorstellungen seien, dass also das »Ding an sich«, wie es objektiv in der Welt vorhanden ist, für uns Menschen weder wahrnehmbar noch denkbar sei. Offenbar trotz ihrer schon darin erkennbaren Nähe zum Solipsismus hatte sich diese Auffassung in der Philosophie – und damit in der allgemeinen Wissenschaftstheorie – zum Ende des 19. Jahrhunderts nahezu allgemein durchgesetzt. Aufgrund einer einhelligen Unterstützung durch die damalige Physik, Psycho-Physik und Neurophysiologie avancierte sie sogar zum Ideal des modernen »wissenschaftlichen« Bewusstseins, das geradezu stolz ist auf seinen Skeptizismus gegenüber der Sinnlichkeit.

 

 

 

 

Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket:

Mit den Augen zu sehn, was vor den Augen dir lieget. 

  (J. W. von Goethe: Xenien aus dem Nachlass 45)

 

 

3. Der darwinistische Begriff des Sinnlichen, vorgeführt am Beispiel der Bienen-Ragwurz, einer mitteleuropäischen Orchidee.

 

Auch die Darwinisten bzw. Neo-Darwinisten sind durchwegs Materialisten, wenn es um die Frage geht, wie Intelligenz, Bewusstsein und Geist in die Welt gekommen sein könnten: Sie sehen nicht nur die Sinneswahrnehmung, sondern überhaupt alle psychischen Eigenschaften und Inhalte des Menschen – auch die großen Weltreligionen, und warum nicht auch den Darwinismus selbst? – als ein natürliches Ergebnis der Evolution. Für den Darwinismus sind also Geist, Intelligenz, Wissenschaft, Moral, Religion, Politik, Gefühle, Leidenschaften, Nächstenliebe oder Kunst etc. ebenso natürliche Phänomene wie etwa die Tatsache, dass wir Fußspuren im Schnee oder im Sand hinterlassen – also nichts als physikalische Effekte. Deshalb stützen Neurobiologen und Neurophilosophen ihre Hypothesen vom physikalisch determinierten Menschen mit besonderer Genugtuung auf darwinistische bzw. neo-darwinistische Gedankengänge. Doch im Unterschied zum bekennenden oder unreflektierten Solipsismus und Neukantianismus der heutigen Philosophen hat der Darwinismus und Neo-Darwinismus der Biologen keine Scheuklappen gegen die Objektivität der Sinne: Er beschränkt sich naiv realistisch auf die physischen Bedingungen des Überlebens in einer rein physisch gedachten Natur. In seinen theoretischen Grundannahmen erwähnt der Darwinismus zwar die Objektivität der Sinne nicht. Zur Erklärung der natürlichen Evolution der Arten genügt ihm die unvermeidliche »Mutation« des Erbgutes[3] und die natürliche Selektion (Auswahl) der jeweils überlebensfähigsten Organismen bzw. Mutanten.

_______________________________________________________ Anmerkung [3]Mutationen sind unvermeidlich, weil der materielle Träger des Genoms ein Molekül ist und kein Molekül in der Natur auf Dauer beständig sein kann (Krauß 2014).

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Da aber eine Überlebensfähigkeit der Organismen bzw. derer Mutanten ohne objektive Sinneswahrnehmung nicht denkbar ist, schreitet der Darwinist von diesem Faktum ohne erkenntnistheoretische Skrupel zur Tagesroutine. Wie anders als mittels objektiver Sinneswahrnehmungesollten sich sonst die jeweils überlebensfähigsten Mutanten adäquat ernähren, fortpflanzen und überlebenstüchtig verhalten?

 

So wird der gesunde erkenntnistheoretische Pragmatismus der Darwinisten nahezu mühelos zum Heilmittel gegen den ungesunden Solipsismus der Neukantianer. Die Forschungsergebnisse des Darwinismus haben deshalb – ob sie nun materialistisch interpretiert werden oder nicht – eine hohe Relevanz für unser Sinnes-Thema. Um zu ergründen, wie objektiv Sinnesempfindungen tatsächlich sein können, greifen wir hierzu das Beispiel einer Symbiose zwischen Tier und Pflanze auf, das zuvor schon in der Schriftenreihe des Carl Gustav Carus-Institutes dargestellt wurde (Göbel1971) und sich auf die Blüte der Bienenragwurz, Ophrys apifera L., einer mitteleuropäischen, bodenlebenden Orchideenart bezieht .

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 1 a:Blütenstand der Bienenragwurz, Ophrys apifera L  (Foto: H. Brettschneider)

 

Wer der Bienenragwurz, Ophrys apiferaLink, zur Blütezeit in freier Natur begegnet, kann darüber staunen, wie tierartig sie aussieht. Allerdings gelingt es nicht spontan, sie einer bestimmten Tierart zuzuordnen. Von der Größe, Färbung und Behaarung der Blüte her kommt aber am ehesten eine Bienenart infrage, worauf ja auch schon der Name deutet. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dieser großen Tierähnlichkeit?

Nach den Untersuchungen von Kullenberg(1961) hat diese Orchideenart eine enge Beziehung zum Fortpflanzungszyklus bestimmter Grabwespen. Die Gestalt der Ophrys-Blüten ist nicht sternförmig-strahlig, wie die meisten Blüten, sondern hat eine tierähnliche Gestalt, was übrigens für alle Orchideen-Blüten der Gattung Ophryszutrifft (Paulus2007). Wie schon Kullenberg(1961) herausfand, gleicht die Profillinie der »Unterlippe« der Blüten dieser Ophrys-Art überraschend genau dem Rückenprofil der Weibchen der wildlebenden Grabwespenart Eucera longicornis(siehe z. B. das Profil der Blüte links oben in Abb. 1a). Auch die Behaarung und Färbung der Blüte stimmt mit der Behaarung und Färbung des Rückens der Weibchen dieser Grabwespen überein. Selbst die sexuellen Duftstoffe der Grabwespenweibchen werden imitiert. Das lockt die Grabwespenmännchen schon an, bevor sie die Ophrys-Blüte sehen können (Abb. 1b). 

 

Abb. 1b:Schema zur Flugbahn des paarungsbereiten Männchens einer freilebenden Bienenart (hier der Langhornbiene Argogorytes mystaceus), das durch die Duftfahne (gestrichelte Linien) des Sexuallockstoffes (Sexualpheromones) einer Ragwurz-Art (hier der Fliegenragwurz Ophrys insectifera) schon ab etwa 10 m Entfernung veranlasst wird, sich im Zick-Zack-Flug (A) zu nähern. Erst ab etwa 1 m Entfernung kann es die Blüte auch sehen (B), und sofort eine Pseudo-Kopulation mit ihr durchführen (C), die nahezu ausschließlich durch Tastwahrnehmungen gesteuert ist. (Aus Hess1983, stark verändert.)

 

NachKullenberg(1961) schlüpfen die Grabwespenmännchen schon vor den Weibchen aus ihren Kokons und werden erst geschlechtsreif, wenn ihre Begattungsorgane ausreichend oft durch Schein-Kopulationen mit Ophrys-Blüten stimuliert wurden. Es sind also zuerst die Grabwespen, die einen Nutzen aus diesem »Spielchen« haben, das die Natur hier vollführt, denn nun sind die jungen Männchen bereit, den Bestand ihrer Art durch die Fortpflanzung zu sichern. Derselbe Überlebensvorteil kommt aber zugleich auch den am »Spielchen« beteiligten Orchideen zu: Beim teilweisen Auslösen ihrer Begattungsreflexe durch den Blütenbesuch werden den nun geschlechtsreifen Bestäubermännchen die Pollensäcke der Ophrys-Blüten mittels spezieller Klebscheiben wie zusätzliche Fühler an die Stirn geheftet (Abb. 1c, k). So ist bei den darauf folgenden Blütenbesuchen die ausschließliche Bestäubung nur dieser Orchideen-Art gewährleistet. Das ist deshalb so wichtig, weil Hybride, das heißt Artmischungen, bei den Orchideen zwar wunderschön gefärbt, aber zumeist unfruchtbar sind. 

 

Abb. 1c:Von links nach rechts: Blüte der Fliegenragwurz (Ophrys insectifera), Kopf der Langhornbiene Argogorytes mystaceusmit vier Pollensäcken beklebt, die Langhornbiene Argogorytes mystaceusbeim Kopulationsversuch mit Ophrys insectifera. (Aus Hess1983: 180)

 

Wie ein Lehrstück führt uns diese Symbiose zwischen Insekt und Pflanze vor Augen, dass deren biologische Effekte allein durch die Objektivität der Sinne freilebender Bienen- und Wespenarten eintreten können. Aber nicht nur das: Auch wir Menschen erhalten beim Nachvollzug dieser Wechselaktionen den Beweis für die Objektivität unserer Sinne. Zwar riechen wir den Sexuallockstoff der Ophrys-Blüten nicht. Aber schon beim ersten Anblick wird uns die gestaltliche und zum Teil auch farbliche Ähnlichkeit zwischen Ophrys-Blüten und Insekten deutlich. So hatte sich dieser allgemeine Eindruck schon lange, bevor man Genaueres wusste, in der Namensgebung für die Arten dieser Orchideen-Gattung niedergeschlagen (z. B. Fliegen-, Hummel-, Hummelschweber-, Bienen-, Spinnenragwurz usw.). Erst nachträglich, vor knapp 100 Jahren lüftete Pouyanne (1917)an den Blüten der Spiegel-Ragwurz (Ophrys speculum)das Geheimnis der Ophrys-Blüten. Seitdem sind nahezu 400 Ophrys-Arten entdeckt worden, die nahezu ausnahmslos von jeweils nur einer einzigen Insekten-Art bestäubt werden (Übersicht bei Paulus2007). Dennoch bleibt die erkenntnistheoretische Frage bestehen: Wie ähnlich ist die Wahrnehmung der Insekten der unsrigen, und wo liegen die Unterschiede? 

Nach Paulus (2007) kann man drei Sinnesqualitäten unterscheiden, durch die das Wunder einer derart selektiven Symbiose zwischen bestimmten Insektenarten und den Arten dieser Orchideen-Gattung ermöglicht wird: 

1. Olfaktorische (Geruchs-)Signale: 

Sie ermöglichen die erste Stufe der Annäherung der Bienenmännchen an die jeweils spezifische Ophrys-Blüte (siehe A in Abb. 1b). Es handelt sich dabei um sexuelle Lockstoffe (sogenannte Pheromone), die nach Paulusüber Distanzen von bis zu 10 m wirksam sind. Entgegen früherer Annahmen, dass die Lockdüfte der Ophrys-Blüten den artspezifischen Insekten-Pheromonen nur ungefähr ähneln, konnten neuere chemische Analysen und Experimente erbringen, dass die auf den Lippen (Labellae) der Ophrys-Blüten verteilten Drüsenzellen olfaktorische (Geruchs-)Stoffe abgegeben, die chemisch sehr genau mit den Düften der noch unbegatteten (virginellen) Bestäuberweibchen übereinstimmen. Es erwies sich sogar, dass im Unterschied dazu die Düfte der schon begatteten Bestäuberweibchen antiaphrodisiakisch auf Bienenmännchen wirken.

2. Optische (farbliche und gestaltliche) Signale: 

Optische Signale dominieren die zweite Stufe der Annäherung zwischen Insekt und Pflanze, sobald die Biene die Ophrys-Blüte sieht, also ab einer Entfernung von etwa einem Meter (siehe B in Abb. 1b). Optisch gibt es nach Paulusdrei Typen der Ähnlichlichkeit zwischen Ophrys-Blüten und Bienen-Weibchen. Zu Typ I gehören für den Menschen unsichtbare UV-Licht-Signale und Merkmale, die einen unmittelbaren sexuellen Bezug haben, wie zum Beispiel die Imitation des Flügelglanzes der Weibchen. Das klassische Beispiel hierfür ist der blaue Glanz auf der Unterlippe der Spiegelragwurz (Ophrys speculum, Abb. 1e, f), der erstmals Pouyanne(1917) zum sexuellen Geheimnis der Ophrys-Blüten führte.

Abb. 1e: Die Spiegel-Ragwurz (Ophrys speculumL.). Sie erhielt wegen des blauen Glanzes ihrer Lippe diesen Namen. Erst nachträglich wurde durch Pouyanne (1917) in Algerien entdeckt, dass sich ein sexuelles Geheimnis hinter diesem blauen Glanz verbirgt. (Aus Paulus 2007, 264).

Abb. 1f:Die optischen Typ-I-Signale nach Paulus (2007), durch die vermutlich das Männchen der Dolchwespe Dasyscolia ciliataso so getäuscht wird, dass es die Blüten der Spiegel-Ragwurz (Ophrys speculum ) mit den eigenen Weibchen verwechselt. Rote Pfeile: Der blaue Glanz der Lippe als Imitation schillernder Flügel. Schwarze Pfeile: Die rot behaarten Seitenlappen als Imitationen der rötlich behaarten Mittel- und Hinterbeine des Bestäuberweibchens (vgl. die Behaarung der Seitenlappen bei Ophrys apifera in Abb. 1a). Orange eingerahmt: Die glänzenden Schwielen (»Pseudoaugen«) oberhalb der Blütenlippe als Imitationen der Flügelgelenke des Bestäuberweibchens (vgl. die »Pseudoaugen« bei Ophrys insectifera (links in Abb. 1c). Gelbe Pfeile: Die rote Behaarung der Blütenlippe als Imitation der rötlichen Körperbehaarung des Bestäuberweibchens. (Aus Paulus 2007, 264).

Zum besseren Verständnis der sexuellen Bedeutung des Anblickes der Flügel der Bestäuberweibchen für artgleiche, begattungsbereite Männchen ist zu ergänzen, dass noch unbegattete (virginelle) Bienenweibchen in der Regel ihre Flügel dem Körper dicht anlegen, sodass sie mit der ganzen Fläche leuchten. Begattete Weibchen stellen ihre Flügel hingegen hoch und bewegen sie rhythmisch, worauf die Männchen mit Desinteresse reagieren (Paulus 2007). 

Als optische Typ-II-Blütenmerkmale bezeichnet Paulus Signale, die ebenfalls einen sexuellen Bezug haben, dabei aber wesentlich »abstrakter«, zum Beispiel als graphische »Male« gestaltet sind. Solche Male veranlassen offenbar die Bestäubermännchen dazu, bestimmte Ophrys-Blüten mit den ei-   genen Weibchen zu verwechseln. Sie können eine »H«, »M«, »Omega« oder »Brillen«-Form, zuweilen aber auch komplizierte Mäander-Formen haben und werden von Paulus (2007) als Imitationen der Flügelkonturen der Bestäuberweibchen gedeutet. Vielfach reflektieren sie zusätzlich UV-Licht, was ihre Signalwirkung wesentlich verstärkt. Solche Male wurden hier schon mehrfach ohne ausdrückliche Erwähnung abgebildet: Zum Beispiel zeigt Oprhys insectifera  ein sehr helles Mal auf der Mitte seiner Blütenlippe (Abb. 1c ganz links), das einem »H« mit extrem verkürzten Schenkeln entspricht. Die eingangs erwähnte Bienenragwurz (Ophrys apifera) trägt ein  verschnörkeltes »H« auf ihrer Lippe (Abb. 1g). 

Abb. 1g:Die Bienenragwurz (Ophrys apifera) trägt ein verschnörkeltes »H« als Mal auf ihrer Lippe, das nach heutiger Kenntnis der »Bienenschrift« die Flügelkonturen des Bestäuberweibchens, der Langhornbiene Eucera longicornis,imitiert. (Foto: H. Brettschneider)

Die optischen Typ-III-Merkmale nach Paulus imitieren nur ganz allgemein die Grundfärbung und Größe des Bestäuberweibchens. Paradoxerweise kann nur dieser dritte, wenig artspezifische Signal-Typ auch menschliche Augen täuschen. Signale vom Typ I und II erregen zwar auch die menschliche Aufmerksamkeit, verfehlen aber zumeist ihren spezifischen Effekt der Vortäuschung eines bestimmten Bestäuberweibchens. 

Die Tatsache, dass der Mensch nur die allgemeinen Merkmale der Ophrys-Blüten auf die Insektenwelt zu beziehen vermag, die Paulus den Typ-III-Merkmalen zuordnet, nicht aber die ungleich spezifischeren Typ-I und II-Signale, lässt sich an der psychologischen Wirkung der Hummelschweber-Ragwurz (Ophrys bombyliflora Link) besonders eindrücklich demonstrieren: 

Abb. 1h:Blüten der Hummelschweber-Ragwurz (Ophrys bombyliflora Link)in der Aufsicht. Deutlich ist das »M« als Flügelimitation auf der Blüten-Lippe sichtbar. Für menschliche Augen ist sie die insektenähnlichste aller Ragwurz-Arten, weil ihre nahezu durchgehende Braunfärbung der allgemeinen Grundfärbung der meisten Wildbienen und -Wespen entspricht. (Foto: H. Brettschneider)

 

Die Blüte der Hummelschweber-Ragwurz trägt zwar ein Mal in »M«-Form auf ihrer Lippe (Abb. 1h). Aber für menschliche Sinne ist dieses Mal nur bei einem bestimmtem Licht-Einfallswinkel sichtbar und verfehlt dann immer noch seine biologisch so wichtige Wirkung als Vortäuschung eines spezifischen Bestäuberweibchens. Ihre allgemeine Übereinstimmung mit einem bienen- oder hummelartigen Insekt macht sie andererseits für menschliches Empfinden so »hässlich«, dass ein menschlicher Betrachter bei ihrem Anblick instinktiv zurückfährt in dem Glauben, eine echte Hummel vor sich zu haben (Abb. 1h). Die Vortäuschung »falscher Tatsachen« ist hier so »unästhetisch«, weil man zu sehen glaubt, wie eine Hummel versucht, »gewaltsam« (natürlich nur im ästhetischen Sinne!) in das obere Sprossende einer Orchidee einzudringen (Abb. 1i). 

Abb. 1i: Blüte der Hummelschweber-Ragwurz (Ophrys bombylifloraLink)von der Seite. Noch verblüffender ist der Anblick von der Seite, weil man zu sehen glaubt, wie eine Hummel in den Spross der Orchidee »gewaltsam« einzudringen versucht. Täuschend echt werden hier auch die behaarten Beine einer Hummel imitiert, die sich energisch am Blütenkelch abstützen. (Foto: H. Brettschneider)

 

Damit scheint zunächst erwiesen, dass zumindest unsere optischen Sinneswahrnehmungen nicht kategorisch dazu verurteilt sind, bloß subjektive Erlebnisse zu sein. Dennoch bleiben Zweifel: Zum Beispiel ist das Bestäuberweibchen der Hummelschweber-Ragwurz, die Wildbiene Eucera oraniensis (Abb. 1j), wesentlich schlanker als die sie imitierende Ophrys-Blüte.

Abb. 1j:Männchen der Wildbiene Eucera oraniensisLepeletier bei der Pseudokopulation mit der Blüte der Hummelschweber-Ragwurz (Ophrys bombylifloraLink). (Foto: H.F. Paulus)

 Statt dessen gleicht die Blüte der Hummelschweber-Ragwurz eher einer »fetten« Hummel. Auch die Blüte der eingangs gezeigten Bienenragwurz (Ophrys apifera)sollte zwar ihrer allgemeinen Färbung nach dem Bestäuberweibchen, der Langhornbiene Eucera longicornis, entsprechen. Doch aus menschlicher Sicht sind die Blütenfarben der Bienenragwurz so »brilliant«, dass sie den Menschen eher davor bewahren, die Bienenragwurz mit ihrem spezifischen Bestäuberweibchen zu verwechseln (vgl. Abb. 1a + gmit Abb. 1k).

Abb. 1k:Die Langhornbiene Eucera longicornis nach vollzogener Pseudokopulation mit der Blüte der Bienenragwurz Ophrys apifera. Man beachte die Ansammlung gelber Pollensäcke auf der Stirn der Biene. (Foto: Jocelyne Cathelineau, SFO-PCV, Societe´ Francaise d´Orchidophilie de Poitou-Charentes et Vendee).

 

Dieses Problem bemerkte schonKullenberg(1961) und deutete die für die menschliche Wahrnehmung übertrieben wirkende Farbigkeit der Blüte der Bienenragwurz als einen »übernormalen« optischen Auslöser. Damit bezog sich Kullenbergdeutlich auf die Instinkttheorie der Lorenzschen Schule in der vergleichenden Verhaltensforschung. Diese lebt bei vielen Darwinisten heute noch weiter, also auch bei Paulus(2007), in dem hypothetischen Konzept der sogenannten AAM, der »Angeborenen Auslöser-Mechanismen« der Tiere und des Menschen. Nach diesem Konzept wäre auch die in der Wahrnehmung des Menschen viel »zu fette» Blüte der Hummelschweber-Ragwurz (Abb. 1h)als ein »übernormaler« optischer Auslöser für das Bestäubermännchen zu deuten. Deutungen dieser Art stellen sich in den historischen Zusammenhang der Instinkttheorie von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen und erinnern damit zum Beispiel an die Attrappenversuche mit Austernfischer-Vögeln. In diesen Versuchen hatten brütende Eltern künstliche Rieseneier gegenüber arteigenen normal großen Eiern bevorzugt. Das damit verbundene darwinistische Konzept ist seit den Arbeiten von Zippelius (1992) in die Kritik geraten und wird nach Wissen dieses Autors seitdem hauptsächlich nur noch auf Avertebraten angewandt, deren Biographien so kurz sind, dass darin kaum Zeit für das Erlernen neuer Verhaltensweisen bleibt. Für die Vertebraten wird der Terminus »angeborene« Auslöser-Mechanismen hingegen nur noch sehr vorsichtig gebraucht. 

3. Den Tastsinn betreffende (taktile) Signale der Ophrys-Mimikry:

Diese Signale werden erst in der dritten Phase der Interaktion zwischen Wildbienen und Ophrys-Blüten wirksam, wenn das Bestäubermännchen die Lippe (Labium) der Ophrys-Blüte besteigt und die »Pseudokopulation« vollzieht. Doch gilt hier wiederum, was schon für die olfaktorischen Signale der Ophrys-Mimikry galt, dass die Wirkung dieser Signale für den Menschen nicht unmittelbar taktil, sondern nur indirekt durch optische Eindrücke nachvollziehbar ist. Deshalb halten wir uns bezüglich der erkenntnistheoretischen Bedeutung dieser Signale kurz und weisen nur auf deren biologische Funktion hin: Die meisten Bestäuberarten vollziehen die sogenannte »Kopf-Pseudokopulation» mit der Ophrys-Blüte. Darunter versteht man eine Pseudokopulation, bei der die Pollinien auf die Stirn des Bestäubers geklebt werden. Es gibt aber auch den dazu entgegengesetzten Fall der »Abdomen-Pseudokopulation«, bei der die Pollinien auf das Hinterende des Bestäuber-Rumpfes (Abdomens) geklebt werden. Die jeweils artspezifisch festgelegte Richtung, in der die Pollinien durch das Bestäubermännchen übernommen werden, ist durch die Richtung, den sogenannten »Strich« der Behaarung der Ophrys-Blüte, festgelegt. Dadurch kann eine Ophrys-Art sogar zwei verschiedene Bestäuber haben, die sich durch die Richtung ihrer Pseudokopulation unterscheiden. Zwar sind wir Menschen zu groß, um die winzigen Haare der Ragwurz-Blüten auf ihren jeweiligen »Strich« zu prüfen. Doch selbstverständlich führt die indirekte, optische Beurteilung des »Striches« zur objektiven Erkenntnis dessen, was im Verlauf der Pseudokopulation aus der Tastwahrnehmung der Bestäubermännchen in die Überlebenschancen der Ragwurz-Orchideen eingeht.

So ist insgesamt aus der Dreiheit der Sinnesfelder, die nach heutigem Wissen an der Ophrys-Mimikry beteiligt sind, nur das mittlere, das optische Sinnesfeld für einen sinnespsychologischen Vergleich des Menschen mit den Insekten brauchbar. Doch auch dort bleibt uns ein schaler Geschmack zurück angesichts der Möglichkeit, menschliche Sinneswahrnehmung könnte zumindest im Prinzip so »abstrakt« sein wie die tierische. Sollte also Metzinger doch Recht gehabt haben mit seiner Behauptung, unsere Wahrnehmung sei nur virtuell, insofern sie nicht »realistisch», sondern bloß »abstrakt« ist? Dies wäre nur dann der Fall, wenn sich erwiese, dass der Mensch sinnespsychologisch ein Tier ist. Lassen wir in dieser Frage den Darwinisten J. H. Paulus zu Wort kommen:

»Insekten haben zwar häufig große Facettenaugen, doch weiß man, dass sie ihre Welt anders sehen und verarbeiten, als dies wir Menschen mit unseren Augen und unserem Gehirn tun. Etwas vereinfacht gesagt, nehmen wir unsere Welt als komplexe Bilder wahr, während Insekten offenbar ihre optische Welt wesentlich »abstrakter« sehen. Objekte setzen sich (für Insekten) aus einer Summe von Signalen zusammen, die danach bewertet werden, ob sie »interessant« oder »uninteressant« sind, ob sie Auslösecharakter haben oder eben nicht [...] Grundlage dieser Hypothese ist, dass Bestäubermännchen zumindest diejenigen optischen Signale bei ihren Blüten selektieren, die sie aufgrund ihrer Weibchenerwartung (also der optischen angeborenen Auslösermechanismen AAM) als Minimum für die Weibchenerkennung benötigen [...] Evolution arbeitet opportunistisch bzw. ökonomisch, und das bedeutet, dass sie nur so viel durch Selektion zulässt, wie unbedingt notwendig ist« (Paulus2005: 132 ff.).

Diese Aussage enthält zwei Urteile: 

1. Die sinnlichen Wahrnehmungen der Tiere sind nicht allein durch den anatomischen Bau ihrer Sinnesorgane, sondern auch dadurch charakterisiert, dass sie in psychologischer Hinsicht »abstrakter« als menschliche Wahrnehmungen sind. »Abstrakt« sind sie, insofern sie sich aus der bloßen Addition einzelner Merkmale zusammensetzen, die nicht zu »Imaginationen«, also zu integrativen Bildern der Welt aufgebaut werden, wie dies in der Wahrnehmung des Menschen geschieht. Statt dessen werden sie als einzelne Signale getrennt im Organismus des Tieres wirksam, das heißt nach angeborenen Mustern bewertet und in starre Handlungverläufe umgesetzt.

2. Die Selektion als Grundelement der Evolution wirkt auf die Sinneswahrnehmung der Tiere nicht quantitativ, aber qualitativ limitierend, indem sie Sinnesqualitäten ausmerzt, die nicht unbedingt überlebensnotwendig sind. Auf beide Tatsachen, die Abstraktheit der tierischen Sinneswahrnehmung und die qualitative Limitation auf ihre Instinktmäßigkeit, hat schon Rudolf Steiner hingewiesen:

»Das Kuriose ist, dass die abstrakten Begriffe dem Tiere nicht fehlen, dass das Tier mit seiner Seele gerade in den allerabstraktesten Begriffen lebt, die wir Menschen uns mühevoll bilden, und dass das Tier die einzelne Anschauung nicht so hat wie wir. Was wir voraushaben, ist gerade, dass wir einen viel freieren Gebrauch der Sinne, eine ganz bestimmte Art von Zusammenwirken von Sinnen und inneren Emotionen und Willensimpulsen haben [...] Aber die Sicherheit des Instinktes, welche die Tiere haben, beruht gerade darauf, dass das Tier von vorne herein mit solchen abstrakten Begriffen lebt, die wir uns erst bilden müssen. Worin wir uns von dem Tier unterscheiden, ist also, dass sich unsere Sinne emanzipieren und freier werden nach der Außenwelt zu, und dass wir auch in unsere Sinne den Willen hineingießen können, den das Tier nicht hineingießen kann .[..] – « (Steiner 1919d, Vortr. v. 3.1.1919, S. 19).

Man beachte, wie Rudolf Steiner hier nicht davon spricht, dass der menschliche Gebrauch der Sinne frei ist, sondern nur, dass er »freier« im Vergleich zum Tier ist. Steiner gebraucht also hier nur den relativierenden, evolutiven, keineswegs aber den absoluten Begriff der Freiheit des Menschen. 

Was Rudolf Steiner andererseits mit »Hineingießen des Willens in die Sinne« beim Menschen meint, lässt sich durch die folgende Erläuterung noch besser verstehen:

»Es ist der große Irrtum, dem sich die Menschen hingeben, dass sie fortwährend in der Psychologie erzählen: Wir schauen die Dinge an, dann abstrahieren wir und bekommen so die Vorstellung. Das ist nicht der Fall. Dass wir zum Beispiel die Kreide weiß empfinden, ist hervorgegangen aus der Anwendung des Willens (auf die Wahrnehmung, Anm. d. Verf.), der über die Sympathie und Antipathie zur Imagination wird. Wenn wir uns dagegen einen Begriff bilden, so hat dieser einen ganz anderen Ursprung, denn der Begriff geht aus dem Gedächtnis hervor (und eben gerade nicht aus der Wahrnehmung, Anm. d. Verf.).« (Steiner1919e)

Gerne wird an dieser Stelle noch der Einwand vorgebracht, es gäbe ja schließlich auch Sinnestäuschungen und Fehlbildungen der Sinne, die man zu beachten habe, bevor man den Sinnen wirklich trauen könne. Aber dieser Einwand ist leicht zu entkräften: Wirkliche Irrtümer entstehen nicht durch Sinnestäuschungen, sondern durch falsche Urteile. Eine Sinnestäuschung ist mit Hilfe des Verstandes leicht zu korrigieren. Wie aber am Beispiel der kantschen Erkenntnistheorie schon deutlich wurde, können Denkfehler unsere Urteilsfähigkeit radikaler lahmlegen als die krankhaftesten Sinnestäuschungen, und das über Jahrhunderte hinweg. So können wir Goethe getrost das letzte Wort in dieser Angelegenheit erteilen: 

Den Sinnen darfst du kühn vertrauen, 

kein Falsches lassen sie dich schauen,

wenn dein Verstand dich wach erhält.

(J. W. von Goethe: Vermächtnis)

Indes bleiben wir bemüht, den eingeschlagenen Weg einer vergleichenden Tier-Betrachtung nun nicht mehr in der Richtung einer Erkenntnistheorie, sondern in der eines Verständnisses des menschlichen Körpers fortzusetzen.

Hierzu behalten wir aus dem Ophrys-Beispiel die Frage im Sinn: Wie konnte es im Verlauf der Evolution zu einer derartigen Annäherung zwischen der Gestalt der Ophrys-Blüten und bestimmter Grabwespenweibchen kommen?

Schon zu Anfang dieser Betrachtung hatten wir den Begriff der Sinneswahrnehmung auf der einen Seite von den Instinkten, Trieben, Begierden, Handlungsmotiven und der Moralität des Menschen auf der anderen Seite unterschieden, indem wir die Sinneswahrnehmung als »Information«, die Willensbegriffe hingegen als Verhaltensimpulse auf den verschiedenen Ebenen des Leibes, der Seele und des Geistes und damit als die Grundlage der Moral bezeichneten. Der gewöhnlich allzu blasse Informations-Begriff erscheint uns nun anhand des Ophrys-Beispiels in neuem Licht, sodass wir das Wort auch ganz anders schreiben könnten, nämlich in der folgenden Art: 

IN – FORMA – TION

Dies ist (wörtlich zu nehmen als): Das Einprägen einer Form in den Organismus durch die Tätigkeit der Sinne.

Indem wir »IN – FORMA – TION« in dieser neuen Art schreiben, versuchen wir die Tatsache wiederzugeben, wie im Ophrys-Beispiel das Sinnesleben eines Insektes evolutiv den Ausschlag für die Gestaltbildung einer Orchideenblüte gegeben hat. Mit anderen Worten heißt dies: Das Sinnesleben eines Insektes ist nicht nur im erkenntnistheoretischen (epistemiologischen) Sinne »objektiv«, also »wahrhaftig«, sondern auch im schöpferischen (ontologischen) Sinne »objektiv«, also »willensartig wirksam« geworden. Nochmals anders ausgedrückt heißt dies, dass sich das Sinnesleben eines Insektes außerhalb seines eigenen Leibes ein ihm ähnliches »Objekt« in der Gestalt der Ophrys-Blüte »erschaffen« hat. Solche »Schöpfermacht« eines Insektes ist aber vorläufig nur auf darwinistischer Grundlage denkbar, indem das Sinnesleben einer Insektenart über Tausende von Generationen hinweg zur selektierenden »Umwelt« für eine mutierende Orchideenart geworden ist. Dadurch wurde ein Orchideenleib dem physischen Träger eines fremden Sinneslebens, dem Leib einer Grabwespe, ähnlich. Dies würde aber zugleich auch bedeuten, dass »Information« nicht bloß »Erkenntnisvermittlung« ist, sondern auch Willens-Charakterannehmen kann, indem sie auf dem Umweg der unvorstellbar großen Zeiträume der Evolution gestaltbildend wirkt. Nochmals anders ausgedrückt heißt dies, dass die Gestalt der Ophrys-Blüte eine evolutive Wirkungder Sinne der Grabwespe ist.

Was ist das, eine evolutive Wirkung? – Mit dem an die Sinne gebundenen Denken können wir zwar die Folgen der Evolution nachträglich erfassen. Aber ihre Wirksamkeit nehmen wir nicht unmittelbar wahr, weil die dort sich öffnenden Zeiträume zu groß für die menschliche Sinnesbeobachtungsind. Insofern ist die Wirksamkeit der Evolution also nurübersinnlichwahrnehmbar, da sie ihrer Zeit-Dimension und erst recht ihrer Wirkmächtigkeit nach »über« der sinnlichen Welt steht. 

Des Weiteren müsste nun auch klar sein: Wenn die »Evolution« aus der Dialektik zweier Mechanismen, genauer: aus »Mutation« und »Selektion« hervorgeht, so ist sie doch weit davon entfernt, ein bloßes »Zufalls-Prinzip« zu sein. »Zufälligkeit« kann man der »Mutation«, keinesfalls aber der »Selektion« zuschreiben. Denn gerade die Letztere ist es ja, die sich uns hier als in hohem Grade gedanklich nachvollziehbar erwiesen hat.

Wenn die Selektivität der Sinne über große Zeiträume hinweg organische Neuschöpfungen durch Selektionsprozesse zulässt, die durch Mutation ermöglicht werden, muss sie mächtiger sein als das, was sie hervorbringt. Da aber in der Evolution des Tierreiches Sinnesorgane immer erst gestaltbildend wirken können, nachdemsie hervorgebracht worden sind, ist das Wirken der Evolution ein Prozess, der im doppelten Sinne »übersinnlich« ist:

Erstensist er »übersinnlich«, insofern er die Sinnesorgane überhaupt erst hervorbringt. Die Wirkungsmacht der Evolution steht also »über« der Wirkungsmacht seiner Geschöpfe, der Sinnesorgane. Das lässt sich besonders einleuchtend am Beispiel der Grottenolme einsehen: Grottenolme sind Schwanzlurche, also molchartige Amphibien, die natürlicherweise in unterirdischen Flusssystemen leben. Zum Beispiel leben die Europäischen Grottenolme(Proteus anguinus)in den unterirdischen Höhlengewässern im Karstder dinarischen Gebirge, die sich entlang der Adriavon Triest(Italien), über Slowenienund Kroatien(Istrien, Dalmatien) bis nach Bosnien-Herzegowinaund Montenegro erstrecken. Aufgrund der Dunkelheit ihres Lebensraumes haben diese molchartigen Tiere keine Augen. Dabei geht die heutige Forschung davon aus, dass diese Molchart von oberirdisch lebenden Molchen abstammt. Erst sekundär ging dieser Molchart über Tausende von Generationen hinweg infolge der Dunkelheit des Lebensraumes nicht nur die Sehfähigkeit, sondern auch der Bildeprozess ihrer Augen verloren. Diese Auffassung stützt sich darauf, dass in Südostslowenien (Region Bela Krajina) eine isolierte oberirdisch lebende Population dieser Molche existiert, die sich von der weißen Höhlenform nicht nur durch die Schwarzfärbung der Haut, sondern auch durch voll entwickelte Augen unterscheidet.

Demnach bildet die Schaffensmacht des Lichtes nicht nur Sinnesorgane, sondern unterstützt auch fortlaufend deren Erhalt, sodass diese Organe wieder verschwinden, sobald die Bedingung ihrer Entstehung – im Falle der Augen das Sonnenlicht – weggefallen ist. 

Zweitensaber steht die Bildemachtdes Lichtesauch zeitlich und qualitativ »über« der Welt der Sinnesorgane: Zeitlich, weil ihr Wirken der Existenz dieser Organe vorausgeht, und qualitativ, insofern ihr schöpferisches Wirken durch die Sinnesorgane selbst nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern nur nachträglich durch Gedanken erschlossen werden kann. Damit hat sich uns das Rätsel der »Triebe« und deren Zusammenhang mit dem »Äther«- oder »Bildekräfteleib« der Tiere und des Menschen ein Stück weit gelöst: Auf der Zeitebene der Evolution, die nicht bloß Augenblicke, sondern Tausende von Generationen übergreift, müssen die Bildekräfte gesucht werden, die im »Äther«- oder »Bildekräfteleib« jeweils artspezifisch zusammengefasst sind. Von dort aus bauen sie den »physischen Leib« der verschiedenen Tierarten und des Menschen auf, gestalten, erhalten und vermehren ihn.

Goethe hat dieses darwinistische Forschungsergebnis mit seiner Metamorphose-Idee schon vorausgenommen, als er schrieb:

»Wär´ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken«

      (J. W. von Goethe: Zahme Xenien) 

 

 

4. Der anthroposophische Begriff der Sinnlichkeit

 

Aus der vorangegangenen Diskussion war ja schon ersichtlich geworden, wie die physische Außenwelt über die Sinne – nicht räumlich, aber qualitativ – in die menschliche Seele hineinragt und dieser die Aufgabe stellt, nicht nur nach der Wahrheit zu suchen, sondern auch denkend um diese zu kämpfen. In dem fragmentarisch gebliebenen Werk »Anthroposophie. Ein Fragment« (Steiner1910) schreibt Rudolf Steiner hierzu das Folgende: 

»[...] der Welt, die dem Menschen durch seine Sinne gegeben ist, und auf welche er sein Seelenleben aufbaut, muss eine andere Welt zugrunde liegen, welche diese Sinneswelt erst möglich macht, dass sie die Sinne aus sich heraus entstehen lässt. Und diese Welt kann nicht in das Gebiet der sinnenfälligen fallen, da sie ihr ganz und gar vorangehen muss. So wird der Ausblick für das Nachsinnen eröffnet auf eine hinter der Sinnenwelt liegende andere Welt, die nicht sinnlich wahrgenommen werden kann, aus welcher sich aber die Sinnenwelt wie aus einem hinter ihr liegenden Daseinsmeer erhebt [...] Man kann wohl beobachten, wie ein Hammer entsteht, ohne sich dabei eines Hammers zu bedienen; nicht aber kann man sinnenfällig beobachten, wie ein Sinnesorgan entsteht, ohne sich eines solchen zu bedienen. Es ist ganz berechtigt, davon zu sprechen, dass die Sinnesorgane aus einer Welt aufgebaut sein müssen, die selbst übersinnlich ist [...]«(Steiner1910)

Steiner spricht hier vom »Ausblick für das Nachsinnen«, wenn er auf eine übersinnliche Welt verweist, aus der unsere Sinnesorgane gebildet sind, die also früher wirkt, als unsere Sinne arbeiten und demnach wirkmächtiger ist als die Organe, die sie hervorbringt.

Im 2. Kapitel dieser Schrift schlägt Rudolf Steiner vor, an Goethe anknüpfend, die Welt der Sinne noch genauer zu untersuchen, um gewissermaßen im Vorfeld der Anthroposophie eine größtmögliche Wirklichkeitsnähe der Erkenntnis zu erhalten. Nicht nur darauf hin könne man sie untersuchen, was sie als Qualitäten und Gegenstände der sinnlichen Beobachtung präsentieren, sondern auch darauf, was die Sinne als physische menschliche Organe sind. Dies sei der beste Weg, davon abzukommen, die »Sinne« dem »Denken« einfach nur pauschal gegenüberzustellen und sich statt dessen das Panorama einer nahezu unergründlichen qualitativen Vielfalt der menschlichen Sinnezu erschließen.

Der Laie ist zumeist daran gewöhnt, nur fünf Sinne zu unterscheiden: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Metzinger (2009) legt seinen Betrachtungen sogar fast ausschließlich nur den Sehsinn als Beispiel für Sinnlichkeit zugrunde. Anthroposophie will aber weder bei der Betrachtung nur eines Sinnes noch bei der Betrachtung von nur fünf Sinnen stehen bleiben, zumal bereits die Naturwissenschaften weit mehr als nur diese fünf Sinne zu unterscheiden wissen: Längst hat die Naturwissenschaft auch den Gleichgewichts-, den Lage-, Beschleunigungs- und Wärmesinn entdeckt und ist so zur Unterscheidung von vier zusätzlichen Sinnen, also zur Anerkennung von insgesamt neun Sinnen gelangt. Hinzugekommen ist außerdem der moderne Rezeptor-Begriff: Man spricht zum Beispiel heute von Schmerzrezeptoren, aber auch von Barorezeptoren, die unterbewusst den Blutdruck wahrnehmen, im gleichen Sinne von Hormonrezeptoren und sogar von Lustrezeptoren usw. Inzwischen geht die Naturwissenschaft mit ihrer Erweiterung des Sinnesbegriffes sogar so weit, dass man gar von einer »Wahrnehmung« der Viren, Bakterien und Fremdstoffe durch das Immunsystem spricht. Dennoch sind die Naturwissenschaften bis dato noch nicht bereit, den Sinnesbegriff auch auf andere als nur materielle Qualitäten auszudehnen. 

Doch auch dabei kann Anthroposophie nicht stehen bleiben. Sie kann auch die Sinne nicht einfach so nebeneinander stellen, wie dies die naturwissenschaftliche Anthropologie zum Beispiel mit dem Seh- und dem Hörsinn macht: Man spricht von Lichtwellen gerade so, wie man von Schallwellen spricht, und bildet sich keinen Begriff davon, wie anders die ganze menschliche Wesenheit sich zu den Wahrnehmungen des Gesichtssinnes im Vergleich zu den Qualitäten des Hörens stellt. Das werden wir im Folgenden noch zeigen können. Anthroposophie ist sogar dazu fortgeschritten, Wahrnehmungsprozesse als »Sinne« zu bezeichnen, die keineswegs nur materielle, ja nicht einmal bloß natürliche, sondern auch kulturell entstandene, also nur dem Menschen gegebene Sinnesqualitäten vermitteln. Ja, »Sinnesorgane« müssen nicht einmal mit Notwendigkeit angeboren sein, sondern können durchaus erst später im Verlauf des Lebens und durch Erziehung ausgebildet werden. 

Diese Erweiterung des Sinnes-Begriffes begründet Anthroposophie mit der folgenden Definition:

»In anthroposophischer Beleuchtung darf alles dasjenige ein menschlicher Sinn genannt werden, was den Menschen dazu veranlasst, das Dasein eines Gegenstandes, Wesens oder Vorganges so anzuerkennen, dass er dieses Dasein in die physische Welt zu versetzen berechtigt ist«. (Steiner1910: 31)

Von dort aus eröffnet sich das Spektrum einer zwölfgliedrigen anthroposophischen Sinneslehre (Steiner1909, 1910, 1916a + b, 1918a, b, c, 1919c, 1920a + b, 1921a + b, 1922b. Siehe auch den Anhang zum Literaturverzeichnis mit anthroposophischer Sekundärliteratur zur Sinneslehre).

 

1. Der Tastsinn

Wahrnehmungsinhalt des Tastsinnes ist die Oberflächenbeschaffenheit und Härte bzw. Weichheit von Körpern in der unmittelbaren Umgebung des physischen Leibes. 

Schon hier ergibt sich ein spezifisches Problem mit Bezug auf die oben gegebene Definition des Sinnlichen: Zwar ist der Wahrnehmungsinhalt des Tastsinnes der denkbar gröbste: Wie hart oder weich, wie rauh oder glatt ist ein Gegenstand in der unmittelbaren Umgebung meines physischen Körpers? Doch obwohl hierzu physische, das heißt anatomisch definierbare Tastrezeptoren (sogenannte Tastkörperchen) über die gesamte Hautoberfläche (Epidermis) verteilt sind, handelt es sich beim Tasten nur eingeschränkt um eine echte Sinneswahrnehmung. – Bei genauerem Zusehen erweist sich nämlich der Wahrnehmungsinhalt des Tastsinnes als davon abhängig, wie stark oder schwach der eigene Wille auf den zu tastenden Körper der Außenwelt drückt: Drücke ich stark, so nehme ich den Widerstand des äußeren Körpers stärker wahr, drücke ich schwach, so erscheint er mir geringer. Dadurch kann mir der Gegenstand weicher oder härter, glatter oder rauer erscheinen, je nachdem, wie fest ich auf ihn drücke. Dieser Effekt entsteht nicht allein am Gegenstand der Außenwelt, den ich ertaste, sondern kommt maßgeblich dadurch zustande, dass ich zugleich mit dem Tasten ein unbewusstes Urteil darüber fälle, wie aktiv mein Wille im Drücken ist. Mein Wille liegt aber weder in der physischen Außenwelt noch in meiner physischen Innenwelt, sondern kommt aus den unterbewussten Tiefen meiner Seele. Es mischen sich also im Tastsinn die Wirkungen der Außenwelt und die Wirksamkeit des eigenen Ich im Willen. Der Tastsinn ist deshalb nicht nur grober, sondern auch unklarer in Bezug auf seinen Wahrnehmungsinhalt, als alle anderen Sinne.

 

2. Der Lebenssinn

Er ist der unbestimmteste, allgemeinste Sinn, der den Menschen nur dann unterrichtet, wenn Prozesse oder Zustände innerhalb der inneren Funktionsordnung des Leibes aus dem Gleichgewicht sind. Solche Störungen teilen sich der Seele durch die Empfindungen des Hungers, Durstes, der Müdigkeit, Atemnot, Überhitzung und Unterkühlung mit. Man riecht oder hört sie nicht, aber man nimmt sie ganz ebenso unvermittelt wahr wie Gerüche, Geschmäcker oder Töne. So fühlt man sich durch den Lebenssinn als ein den Raum erfüllendes, leibliches Selbst. Was hier wahrnehmbar wird, ist aber nur die Wirkungdes Willens in der Leibesorganisation, nicht jedoch dieser selbst, was beim Tasten der Fall ist. Die innere Leibesorganisation bleibt insofern für das Selbst dennoch leibliche Außenwelt.

 

3. Der Eigenbewegungssinn

Man wäre kein Mensch, könnte man nicht alle Bewegungen des Leibes wahrnehmen, die man willkürlich verursacht, vom Augenzwinkern bis zum Aufstehen.

 

4. Der Gleichgewichtssinn

Die Einhaltung des Gleichgewichtes, das heißt die Wahrnehmung der Lage des Schwerpunktes des ganzen Körpers, ist für den aufrecht stehenden und gehenden Menschen besonders wichtig. Sie wird zumeist mit den drei halbzirkelförmigen Bogengängen des Innenohres in Bezug gesetzt, hat aber letztlich den ganzen Körper als Grundlage.

Gemeinsames Wirken der Sinne 1–4:Der ganze Körper ist Sinnes-Organ.

Wahrnehmungsinhalt:Der eigene Körper wird als eine physische Außenwelt empfunden, die Grundlage des Selbstbewusstseins ist.

 

5. Der Geruchssinn

Chemische Eigenschaften von Stoffen der Außenwelt, sofern sie gasförmig sind, bilden den Wahrnehmungsinhalt dieses Sinnes. Nur die Außenseite der Körper wird wahrgenommen, da wir nur Körper zu riechen vermögen, die gasförmige Stoffe aussenden.

 

6. Der Geschmackssinn

Die chemischen Eigenschaften von Stoffen der Außenwelt werden erst schmeckbar, wenn sie im flüssigen Milieu des Speichels aufgelöst sind. Dort gehen sie eine Wechselwirkung mit dem inneren Chemismus des Organismus ein, die aufgrund von sechs enzymatischen Systemen ebenso viele unterschiedliche Modalitäten der Geschmackswahrnehmung ergeben (Voigt& al. 2014). Insofern vermittelt also der Geschmackssinn dem Menschen ein ungleich intimeres Verhältnis zur Welt, als dies für den Geruchssinn der Fall ist.

 

7. Der Sehsinn

Das Verhältnis der Oberfläche der Außenweltkörper zum Licht, das sich in der Durchlässigkeit oder in der Reflektion der Farben ausdrückt, ist Inhalt der Wahrnehmung. Die sichtbare Welt hat eine wichtige, allzu leicht unbemerkt bleibende Eigenschaft: Nur die Farbensehen wir unmittelbardurch den Sehsinn. Die Gestaltder Körper erfassen wir hingegen nur mittelbar, indem wir den Eigenbewegungs-Sinn einbeziehen: Die Form eines Dreieckes, eines Kreises, einer Ellipse, eines Quadrates usw. erleben wir unbewusst urteilend, indem wir unbewusst eine Augenbewegung vollziehen, die der Kontur des zu sehenden Körpers folgt. So scheint die Letztere erst sekundär im Zusammenwirken des Seh- und des Bewegungssinnes für das Bewusstsein auf.

Ein unbewusstes Urteil fälle ich auch, wie schon erwähnt, wenn ich mit dem Tastsinn in den eigenen Willen untertauche und durch Drücken den Widerstand bzw. die Weichheit eines Gegenstandes erkunde. Auch die Gestalt eines Körpers kann durch das Untertauchen des Bewegungssinnes in den Tastsinn wahrgenommen werden. Sogar in den Gleichgewichtssinn können wir mittels des Sehsinnes eintauchen, sodass wir ein Gleichgewichtserlebnis beim Sehen eines äußeren Körpers durch unterbewusstes Urteilen erlangen. Das kann man zum Beispiel im dahinrasenden D-Zug erleben: Beim schnellen Durchfahren einer Linkskurve können uns dadurch zum Beispiel die Tannenbäume eines Waldes so erscheinen, als hätten sie Schlagseite nach rechts. In einer Rechtskurve ist das entsprechende Erlebnis umgekehrt. Auch der Lebenssinn kann in dieser Weise mit dem Bewegungssinn verknüpft sein. Dies tritt zum Beispiel bei der Seekrankheit ein, wenn das Schlingern des Bootes Übelkeit erzeugt. Das unbewusste Urteilen, das beim Zuschalten eines Sinnes zur Tätigkeit eines anderen Sinnes vollzogen wird, ist also besonders typisch für die vier hier zuerst genannten Sinne, ist aber bei den anderen Sinne keineswegs ausgeschlossen. 

Gemeinsames Wirken der Sinne 5–7:Die Körperlichkeit der Außenwelt wird zum Wahrnehmungsinhalt.

 

8. Der Wärmesinn

Wahrnehmungsinhalt ist hier, was die äußeren Körper als Wärme oder Kälte innerlich durchdringt.

 

9. Der Gehörsinn

Holz klingt »hölzern«, Metall »metallisch«, Glas »gläsern«, ein leeres Fass klingt »hohl«, und einem teilweise gefüllten Fass können wir anhören, wieviel Hohlraum noch frei ist etc. Im Klang erzittert das Innere der Körper. Im Klang offenbart sich uns die Innerlichkeit der Körper, die »Seele« der sonst nur tot und oberflächlich erscheinenden Körperwelt. So unterscheiden wir die Körper der Außenwelt mittels des Hörsinnes nach ihrer inneren Beschaffenheit. 

Hier muss zur Kritik der zeitgenössischen Erkenntnistheorie darauf verwiesen werden, dass innerhalb derselben bis heute kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Seh- und dem Hörsinn in der Hinsicht gemacht wird, dass man der Sinneswahrnehmung jeweils Schall- oder Lichtwellen zugrunde legt, ohne dabei zu bemerken, dass der Sehsinn an der Oberfläche der äußeren Körper stehen bleibt, der Hörsinn dagegen bis in deren Inneres vordringt. 

 

10. Der Laut- oder Sprachsinn

Herkömmlich wird die Frage verneint, ob denn die Sprachwahrnehmung ein Sinn sein könne. Zu sehr setzt die traditionelle Erkenntnistheorie Sprache mit dem Denken gleich, sodass ihr die Welt der Sprachlaute nicht als außerhalb, sondern als innerhalb der Gedankenwelt und damit jenseits der Grenze der Sinneswelt erscheint. Doch dieses Urteil beruht auf ungenauer Beobachtung: Schon die Tatsache, dass dieselben Sprachlaute in verschiedenen Sprachen ganz verschieden gedeutet werden, spricht gegen die Einheit von Sprechen und Denken. Sprachlaute werden auch ganz anders aufgenommen als Naturklänge, da nicht der Grundton, sondern nur die jeweils zugehörigen Obertöne den Inhalt des Spracherlebnisses bilden. So bleiben gesprochene Sprachlaute wie A, E, I, O oder U auch dann jeweils klar unterscheidbar, wenn sie beim Sprechen auf immer demselben Grundton erklingen. Steiner spricht sogar davon, dass im Sprachlaut bis zu drei Obertöne jeweils zu einer »Melodie« zusammengefasst werden, die aber nicht als melodische, sondern eben als Lautgestalt erlebt wird, weil der zeitliche Ablauf des Sprechens diese drei Obertöne in jeweils einem Laut zusammendrängt. Die durch zeitliches Ineinanderschieben der Obertöne erzeugten Klangfarben der Sprachlaute bezeichnet man in der Ton-Eurythmie als »Konkordanzen«.

Die Bezeichnung »Sprachsinn« erregt dennoch zumeist spontane Ablehnung, weil nicht nur die unterschiedlichsten Gefühle wie Angst, Freude, Wut, Trauer, Enttäuschung und Schmerz, sondern auch alle unsere Vorstellungen mit den Sprachlauten assoziiert sind. So verfällt man leicht der Illusion, Sprache entstehe aus der bloßen Assoziation von Naturlaut und denkendem Begreifen. Der Sprachlaut ist jedoch, soweit er einen vorstellungsartigen Inhalt transportiert, im Unterschied zum gedachten Begriff stets eindeutig und nicht durch das Urteil nachträglich veränderbar, ganz analog dazu, wie wir auch Farben, Töne, Gerüche und Geschmäcker »objektiv« und als vom Urteil unverfälschte Wahrnehmungen akzeptieren müssen.

Die Beobachtung der Kindesentwicklung ergibt dementsprechend, dass der Erwerb der Sprache schon lange im Gang ist, bevor das Denken hinzutritt und sich mit der Sprache verbindet. Die Frühgeschichte der Menschheit demonstriert diesen Sachverhalt noch ungleich drastischer: Aus Fossilbefunden ist bekannt, dass der Frühmensch schon vor 9 Millionen Jahren den aufrechten Gang, aber noch kein vergrößertes Gehirn hatte. Das lehren die Fossilbefunde des Fußes, der Knie, der Hüftgelenke und der Wirbelsäule: Am Fuß unterscheidet die angelegte Großzehe den Menschen von den übrigen Primaten, die durchweg die Großzehe so abspreizen, als sei der Fuß bloß eine zusätzliche Hand zum Klettern. Außerdem ist seit dieser Zeit beim Menschen das Fersenbein nachweisbar, das allen anderen Primaten fehlt und das ruhige, ausdauernde Stehen erst ermöglicht. 

Schon seit 9 Millionen Jahren ist dementsprechend auch der Bau der Wirbelsäule des Menschen vom aufrechten Gang geprägt: Während die Wirbelsäule der Primaten eine einfache Krümmung aufweist, ist sie beim Menschen doppelt gekrümmt. Das ermöglicht, dass der Mensch seinen Kopf beim aufrechten Gang anstrengungslos in einem labilen Gleichgewicht balancieren kann. Hingegen muss das Gewicht des Kopfes bei den übrigen Primaten ständig durch aktive Muskelspannung getragen werden, da deren hauptsächliche Ausrichtung der Wirbelsäule wie bei den übrigen Säugern parallel zur Erdoberfläche verläuft. Das Balancieren des Kopfes ist beim Menschen also deshalb so mühelos, weil es schon seit 9 Millionen Jahren in die Gestalt der Wirbelsäule integriert ist, nicht aber bei den Affen.

Wie man andererseits aus dem Bau der Zähne weiß, hat der Mensch erst seit 2 Millionen Jahren ein Sprachgebiss, das heißt ein Gebiss, dessen Zähne durchgehend gleich hoch (in der Fachsprache: isodont) sind und dadurch eine lückenlose Oberkante bilden. Die Bildung dieses Sprachgebisses hat also 7 Millionen Jahre gedauert, bis daraus die vollendete Voraussetzung des Sprechens wurde. Rasch entwickelte sich aber erst danachdas menschliche Gehirn bis zur heutigen Größe, sodass man grob davon ausgehen kann, dass der Mensch schon 7 Millionen Jahre gesprochen hat, bevor er so denken konnte wie der heutige Mensch. Das zeigt auch die weitere Entwicklung: Der Neandertaler Mensch erzeugte zwar schon Artefakte, die teilweise auch Werkzeuge sind. Aber die Höhlenmalereien des Homo sapiens, des heutigen Menschen, gibt es erst seit etwa 50.000 Jahren. Wir ersehen also aus der Frühgeschichte der Menschheit, wie lange es gedauert haben muss, bis die Sprache des Menschen nicht bloß Gefühle, sondern auch Gedanken mitteilen konnte.

Ein weiteres Vorurteil der zeitgenössischen Erkenntnistheorie besagt, dass als Sinnesorgane nur Organe bezeichnet werden können, deren Besitz angeboren ist, wohingegen der Sprachsinn aber erst nach der Geburt entwickelt wird. Dies gilt allerdings mit graduellen Unterschieden für fast alle anderen Sinne ebenso, ist also kein wirkliches Ausschlusskriterium. Das Besondere am Sprachsinn ist aber, dass er durch das Volkstum – man kann auch sagen: durch den jeweiligen Volksgeist – geprägt wird, denn die einzelnen Sprachlaute haben in fast jeder Sprache eine andere Bedeutung. Hier können wir anhand der Sinne bemerken, dass der Mensch von einem bestimmten Moment an seine eigene Evolution in die Hand genommen hat. Doch diesem Evolutions-Schritt ging nachweislich die Aufrichtung der menschlichen Gestalt voraus. Diese Aufrichtung ist, rein faktisch betrachtet, die Voraussetzung zur Bildung des Sprachsinnes gewesen, war aber als solche keine Sinnes-, sondern eine Willensaktion. Indem die Aufrichtung als Voraussetzung des Sprachsinnes gelten muss, darf sie zugleich auch als die historische Grundlegung des Selbst-Bewusstseins gelten. 

Gemeinsames Wirken der Sinne 8–10:Die Innerlichkeit der Außenwelt wird wahrgenommen.

 

11. Der Begriffssinn

Wahrnehmungsinhalt des Begriffssinnes sind die Begriffe, die man von außen durch andere Menschen zugetragen bekommt. 

Hier leistet die moderne Erkenntnistheorie noch mehr Widerstand als schon beim Begriff des Sprachsinnes, denn man fragt sich unmittelbar: Entstehen denn unsere Begriffe nicht aufgrund des urteilenden Denkens? – Aber auch dieser Einwand beruht auf Vorurteilen und ungenauer Beobachtung:

Wir können uns selbst jederzeit kritisch prüfen, ob wir wirklich immer nachdenken, wenn wir einen uns bekannten Begriff hören. Oder ist es nicht ebenso oft der Fall, dass wir ganz unmittelbar, also ohne erneutes Urteilen, gleich wissen, wovon die Rede ist, wenn ein anderer Mensch zu uns spricht? Wir gehen also mit den in uns bereits aus der Erfahrung vorhandenen Begriffen so um, dass sie uns ebensolche Sinnesorgane werden wie schon die »natürlichen« Sinne des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens oder Tastens. Jederzeit könnten wir uns alternativ dazu auch des erkennenden Denkens, Urteilens oder Erinnerns bedienen. Aber wir tun dies nur ausnahmsweise, wenn irgendeine Formulierung, eine Situation oder ein ganzer Satz uns ungewöhnlich gestaltet oder eben tatsächlich ganz neu erscheint. Anders kämen wir mit der Kompliziertheit des menschlichen Lebens und der Gespräche, die wir führen, gar nicht zurecht. In jedem Einzelfall könnten wir dabei durch Selbstbeobachtung unterscheiden, ob ein unmittelbares Wahrnehmen stattfindet oder das urteilende Denken oder das Erinnern aktiviert wird. Doch weitaus häufiger ist dies nicht der Fall, sodass uns der Begriffsinn im Alltag zumeist das denkende Urteilen erspart. Das heißt aber keineswegs, dass unser Umgang mit Begriffen immer nur unbewusst funktioniert. Denn trotz dieser »Arbeitsteilung« in ein unbewusstes Wahrnehmen der uns schon vertrauten Begriffe und ein bewusstes Verarbeiten der neuen Elemente unseres Gegenstandsbewusstseins (Kahnemann 2012) sind wir lernende Wesen vom ersten bis zum letzten Tag unseres Lebens. Und dabei haben wir bei gleichzeitigem fortwährendem Aufnehmen neuer Begriffe die unmittelbare Wahrnehmung derselben durch den Begriffssinn zur Verfügung. 

Die moderne Psychologie bezeichnet die Begriffs-Wahrnehmung als »Assoziation«. Damit wird sie aber dem zu beobachtenden Lebensgang des Menschen nicht gerecht: Beim Erwachsenen scheint es zwar so, als ginge das »Denken« dem »Assoziieren« stets voraus. Das Kleinkind nimmt aber Begriffe schon lange wahr, zunächst nur mimisch und implizit aus Verhaltensweisen der Erwachsenen, dann auch zunehmend sprachlich, bis es viel später erst das urteilende »Denken« lernt. Die faktische, ontogenetische Reihenfolge verhält sich also zur Theorie der „Assoziation“ genau umgekehrt. Auch beim Frühmenschen ist es wahrscheinlich, dass er schon Jahrtausende lang Begriffe wahrgenommen hat, bevor er der selbstbewusste, kritische »Denker« wurde, der er selbst heutzutage nur ausnahmsweise ist. (Die meisten Menschen »denken« auch heute nahezu überhaupt nicht, sondern nehmen immer nur Begriffe wahr. Dieser Tatbestand ist allgemein geläufig, wird aber zumeist nur als »unkritisches Denken«, nicht als Begriffs-Wahrnehmung klassifiziert.) Wenn also der prähistorische Mensch das »Wahrnehmen« der Begriffe schon vor dem »kritischen Denken« hatte, dann kann er, was man gemeinhin als »Assoziation« bezeichnet, nicht mit seinem kritischen Denken »getätigt« haben, da er dieses noch gar nicht hatte. De facto konnte er die noch ganz unbewusst aufgenommenen Begriffe zunächst nur mit seiner Leiblichkeit »assoziieren«, und das vollzieht sich heute noch. Der Begriffssinn muss sich also beinahe so unbewusst in der gestikulierenden und sprechenden Menschengemeinschaft gebildet haben wie die »natürlichen« Sinne. Die Menschengemeinschaft wirkt insofern als eine den Denksinn hervorbringende und erhaltende Schaffensmacht, ganz analog dazu, wie das Licht den Sehsinn der Grottenolme schuf und erhielt, solange diese noch am Tageslicht lebten. 

Leicht einzusehen ist andererseits, dass der Begriffssinn auf das Vorhandensein sowohl des Hör- als auch des Sprachsinnes aufbaut. Aus der Geistesforschung Rudolf Steinerserfahren wir des Näheren, dass die Tätigkeit des Begriffssinnes so in den Hör- und den Sprachsinn eingreift, dass die dort zugrunde liegende Aufmerksamkeit des Bewusstseins von den Obertönen der Sprache wieder zurückgedrängt wird, ohne dabei auf die Wahrnehmung der Grundtöne zurückzufallen. Die Tätigkeit des Begriffssinnes ist also kein weiteres »Aufbauen« der Sinnestätigkeit aus dem Sprachsinn, wie man leicht annehmen könnte. Sie ist auch kein »Addieren« der schon vorhandenen Begriffe, wie die akademische Psychologie annimmt und deshalb vom »Assoziieren« der Begriffe spricht. Stattdessen ist sie aus Sicht der Anthroposophie ein unbewusstes Zurückdrängen der physischen Tätigkeiten des Hör- und des Sprachsinnes. Dieses Zurückdrängen führt evolutiv den Menschen tiefer in die Innerlichkeit seiner Außenwelt als alle anderen Sinne, genauer gesagt: führt ihn in die Geistigkeit seiner Mitmenschen, bis in die Gedankenwelt der Menschen, mit denen er lebt. Im Unterschied zum Sprachsinn erfolgt dies nicht nur aus der Bindung an den Volksgeist, sondern mit fortschreitender Menschheitsevolution zunehmend aus den regionalen Verbindungen heraus zum überregionalen, epochalen Geist der Menschheit, zum Zeitgeist.

»[...] was hinter dem Tönen der Obertöne liegt als das allgemein Menschliche, [...] der gemeinsame Menschengeist [...], der über die ganze Erde hinüberwallt [...] er lässt sich daher nur dann erkennen, wenn ein jeder an seinem Orte sozusagen durch die Obertöne hindurch ins Unhörbare, ins bloß Vorstellungsmäßige hineinhorcht.« (Steiner1909c)

Diese zuletzt angeführte Betrachtungsweise, die das Zusammenwirken des Sprachsinnes und des Begriffssinnes als ein schrittweises Zurückdrängen der physikalischen Anteile des sinnlich Wahrnehmbaren beschreibt, macht deutlich, inwiefern das Sinnesleben nicht nur eine erkenntnisartige (epistemiologische), sondern auch eine willensartige (ontologische) Seelentätigkeit ist. 

Was ist also Sinnestätigkeit ihrem Wesen nach? Rudolf Steiner bezeichnet sie als ein fühlendes Wollen und ein wollendes Fühlen. Diese nur scheinbar vage Ausdrucksweise ist genauer betrachtet deshalb präzise, weil sich der Charakter der Sinnestätigkeit im Lauf des Lebens verändert: Von einer überwiegend wollenden Tätigkeit des Kindes wandelt sie sich zu einer überwiegend intellektuellen Tätigkeit im Greis. Und in den mittleren Lebensjahren verläuft dieser Prozess fühlend-wollend bis wollend-fühlend (Steiner1919b). 

 

12. Der Ichsinn

Hiermit ist nicht die Wahrnehmung des eigenen Ich, nicht das Selbstbewusstsein gemeint. Das Selbstbewusstsein kann schon insofern keine Sinneswahrnehmung sein, als ja unser Ausgangspunkt, die Definition der Sinnlichkeit, besagt, dass ein Sinn nur genannt werden kann, was den Menschen von der physischen Existenzeines Gegenstandes, Vorganges oder Wesens außerhalbdes eigenen Selbst überzeugen kann. Insofern uns also das Selbstbewusstsein von der physischen Existenz eines Wesens innerhalbdes eigenen Selbst überzeugt, kann es kein Sinn sein.

Kaum jemand dürfte bestreiten können, wie schnell und treffsicher wir andere Persönlichkeiten als solche wiedererkennen, nachdem wir ihnen wenigstens einmal ausreichend intensiv und umfassend begegnet sind. Obwohl demnach das genannte Kriterium dafür, dass es sich um eine Wahrnehmung handelt, durch die eigene Erfahrung voll erfüllt wird, ergeben sich dennoch gewichtige Einwände aus der heute als selbstevident eingeschätzten Annahme, dass jeder Mensch vom anderen Menschen nur die äußere Erscheinung seines Körpers (z. B. die Klangfarbe der Stimme, deren Tonfall, Sprachmelodie usw.) und dessen Aktionen (z. B. die Mimik und den allgemeinen Bewegungsstil) wahrnehmen könne. Die subjektiv erlebte innere Welt eines anderen Menschen sei aber in sich genau so abgeschlossen und von außen uneinsehbar, wie dies auch für die eigene innere bewusste Welt gilt, die ebenso wenig von außen wahrnehmbar, sondern nur per Urteil, also nur denkend erschließbar sei. Dieser Ansicht widerspricht Rudolf Steiner:

»Was habe ich denn zunächst vor mir, wenn ich einer anderen Persönlichkeit gegenüber stehe? Ich sehe auf das Nächste. Alles das starre ich nicht bloß an, sondern es setzt meine denkende Tätigkeit in Bewegung. Indem ich denkend vor der anderen Persönlichkeit stehe, kennzeichnet sich mir die Wahrnehmung gewissermaßen als seelisch durchsichtig. Ich bin genötigt, im denkenden Ergreifen der Wahrnehmung mir zu sagen, dass sie das gar nicht ist, als was sie den äußeren Sinnen erscheint.« (Steiner1918b)

Steiner bestreitet also nicht, dass das eigene Denken sehr aktiv am Eindruck der Sinneswahrnehmung beteiligt ist, sondern stellt sogar in den Mittelpunkt, dass das Denken eine erhebliche Verstärkungerfährt durch die Begegnung mit der anderen Persönlichkeit. Aber wiees an der Wahrnehmung beteiligt ist, macht den großen Unterschied zur traditionellen Psychologie aus. Insofern werden wir hier an die bereits gegebene Darstellung des Begriffssinnes erinnert. Wie nämlich schon beim Begriffssinn beteiligt sich das Denken auch hier wiederum nicht »assoziativ«, indem es das vorhandene Sinnliche durch erinnerte Begriffe aufbaut, ergänzt und erweitert, sondern es beteiligt sich im Gegenteil daran, die Wahrnehmung abzubauen. Die offenbar durch die Konfrontation mit der anderen Persönlichkeit gesteigerte Denktätigkeit bautalso das gegebene sinnliche Erlebnis ab. So wird erst verständlich, was Steiner meint, wenn er sagt: »Die Wahrnehmung kennzeichnet sich mir gewissermaßen als seelisch durchsichtig«.Nehmen wir einmal hierzu an, dass die andere Persönlichkeit, wenn sie mir entgegentritt, unvermeidlich irgendwelche Eigenschaften offenbart, die vollkommen unwesentlich sind, zum Beispiel irgendwelche Gewohnheiten, körperliche Behinderungen oder Krankheitssymptome. Dann muss ich als Betrachter diese Wahrnehmungsmerkmale erst abbauen, bis seelisch durchsichtig, das heißt erkennbar wird, wer diese Person wirklich ist. 

Erst infolge des seelischen Durchsichtigwerdens der Wahrnehmung durch Abbau störender Zufälligkeiten befreit sich der Ich-Sinn von den Merkmalen der äußeren Persönlichkeit, und es wird offenbar, »dass sie das gar nicht ist, als was sie den äußeren Sinnen erscheint« [...] »Die Sinneserscheinung offenbart in dem, was sie unmittelbar ist, ein anderes, als was sie mittelbar ist. Ihr Sich-vor-mich-Hinstellen ist zugleich ihr Auslöschen als bloße Sinneserscheinung«(Steiner1918b).

Während also der Begriffssinn die vom sprechenden anderen Menschen erzeugten Obertöne zurückdrängt und dadurch für die Wahrnehmung der dahinter verborgenen Gedankenwelt seelisch durchsichtig macht, geht Steiner beim Ich-Sinn in dieser Hinsicht noch weiter und spricht vom »Auslöschen« der Wahrnehmung. Wie wirkt sich diese weitere Steigerung des Abbaus der Sinnestätigkeit aus?

»Aber was sie in diesem Auslöschen zur Erscheinung bringt, das zwingt mich als denkendes Wesen, mein Denken für die Zeit ihres Wirkens auszulöschen und an dessen Stelle ihr Denken zu setzen. Dieses ihr Denken aber ergreife ich in meinem Denken als Erlebnis wie mein eigenes. Ich habe das Denken des anderen wirklich wahrgenommen. Denn die als Sinneserscheinung sich auslöschende unmittelbare Wahrnehmung wird von meinem Denken ergriffen, und es ist ein vollkommen in meinem Bewusstsein liegender Vorgang, der darin besteht, dass sich an die Stelle meines Denkens das andere Denken setzt. Durch das Sich-Auslöschen der Sinneserscheinung wird die Trennung zwischen den beiden Bewusstseinssphären tatsächlich aufgehoben. Das repräsentiert sich in meinem Bewusstsein dadurch, dass ich im Erlebnis des anderen Bewusstseinsinhaltes mein eigenes Bewusstsein ebenso wenig erlebe, wie ich es im traumlosen Schlaf erlebe. Wie in diesem mein Tagesbewusstsein ausgeschaltet ist, so im Wahrnehmen des fremden Bewusstseins das eigene.« (Steiner1918b)

Rudolf Steiner beschreibt also die Tätigkeit des Ich-Sinnes so, dass sie in einen Zustand der Auslöschung des Sinnesbewussteins mündet, den man sachgemäß nur noch mit dem traumlosen Schlaf vergleichen kann. Mit anderen Worten: Während uns die übrigen Sinne für die Umgebung wach machen, lässt uns der Ich-Sinn für das eigene Bewusstsein einschlafen. Insofern ist also der Ich-Sinn nicht nur zu unterscheiden vom Erlebnis des eigenen Selbst im Selbst-Bewusstsein, sondern vermittelt geradezu dessen polares Gegenteil, das Einschlafen im Ich des anderen Menschen. Als den größten Gegensatz, den es im menschlichen Seelenleben überhaupt geben kann, haben wir also nun vor uns: Das Erwachen des eigenen Willens im Tastsinneinerseits, und das Einschlafen im Ich des anderen Menschen im Ichsinnandererseits.

Frage ich mich nun, ob ich dergleichen schon erlebt habe, dass ich in der Begegnung mit einem anderen Menschen einschlafe, ohne dabei umzufallen, so muss ich gestehen, diesen Bewusstseinszustand nur zweimal erlebt zu haben: Zum ersten Mal bei der Begegnung mit Thomas Göbel (Brettschneider 2006), zum zweiten Mal bei der Begegnung mit meiner Ehefrau. Doch im sozialen Alltag finde ich derlei Erlebnisse nicht und frage mich, ob ich eine besondere Schulung durchlaufen muss, um für die Selbstbeobachtung trotz des beschriebenen Einschlafens ausreichend wach bleiben zu können. So kommt Rudolf Steiner in Bezug auf den anthroposophischen Schulungsweg immer wieder darauf zurück, dass die Meditation, indem sie ein leeres Bewusstsein schafft, den Menschen zum Einschlafen führt, wenn dieser nicht gleichzeitig seine Seelenkräfte so stärkt, dass dies nicht erfolgt. Aber das leere Bewusstsein des Meditierenden ist ja immer noch nicht dasselbe wie das Bewusstsein eines Menschen, der einem anderen Menschen begegnet, dabei einschläft, nun aber kein leeres Bewusstsein, sondern ein solches entwickelt, das vom fremden Bewusstsein des anderen Menschen erfüllt ist. Als habe er sie schon geahnt, kommt Rudolf Steiner dieser Frage dadurch entgegen, dass er anfügt:

»Die Täuschung, als ob dies nicht so sei, rührt nur davon her, dass im Wahrnehmen der anderen Person erstens an die Stelle der Auslöschung des eigenen Bewusstseinsinhaltes nicht Bewusstlosigkeit tritt wie im Schlafe, sondern der andere Bewusstseinsinhalt, und zweitens, dass die Wechselzustände zwischen Auslöschen und Wieder-Aufleuchten des Bewusstseins von mir selbst zu schnell aufeinander folgen, um für gewöhnlich bemerkt zu werden.«(Steiner 1918a)

Diese letzte Passage beschreibt einen raschen, rhythmischen Wechsel polarer Zustände der Bewusstseinsvereinigung und -trennung zwischen dem eigenen Selbst und einer anderen Person. Das lässt weniger an Mystik als eher an Erotik denken. Wenn also der anthroposophische Sozialimpuls eine Form der Erotik sein sollte, dann wohl nicht im sexuellen, sondern eher im Sinne der Aufforderung Jesu Christi: »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst«! – Die Christus-Botschaft kann ihren Sinn ja gerade nichtim Zusammenhang der biologischenNotwendigkeiten, sondern nur als freierLiebes-Willen erfüllen.

Allerdings finden sich bei Rudolf Steiner auch ganz anders lautende Beschreibungen dessen, was die Seele durch den Ich-Sinn erlebt:

»Stehen Sie einem Menschen gegenüber, dann verläuft das folgendermaßen: Sie nehmen den Menschen wahr eine kurze Zeit; da macht er auf Sie einen Eindruck. Dieser Eindruck stört Sie im Inneren: Sie fühlen, dass der Mensch, der eigentlich ein gleiches Wesen ist wie Sie, auf Sie einen Eindruck macht wie eine Attacke. Die Folge davon ist, dass Sie sich innerlich wehren, dass Sie sich dieser Attacke widersetzen, dass Sie gegen ihn innerlich aggressiv werden. Sie erlahmen im Aggressiven, das Aggressive hört wieder auf; daher kann er nun auf Sie wieder einen Eindruck machen. Dadurch haben Sie Zeit, Ihre Aggressivkraft wieder zu erhöhen, und Sie führen nun wieder eine Aggression aus. Sie erlahmen darin wieder, der andere macht wiederum einen Eindruck auf Sie und so weiter. Das ist das Verhältnis, das besteht, wenn ein Mensch dem anderen, das Ich wahrnehmend, gegenübersteht: Hingabe an den Menschen – innerliches Wehren; Hingabe an den anderen – innerliches Wehren; Sympathie – Antipathie; Sympathie – Antipathie. Ich rede jetzt nicht von dem gefühlsmäßigen Leben, sondern nur von dem wahrnehmenden Gegenüberstehen. Da vibriert die Seele; es vibrieren: Sympathie – Antipathie, Sympathie – Antipathie, Sympathie – Antipathie.« (Steiner 1919)

Auf den ersten Blick hat diese zweite Beschreibung keinerlei Ähnlichkeit mit der ersten, obwohl Steiner ausdrücklich betont, dass er dasselbe meint, indem er auf die Neuauflage der »Philosophie der Freiheit«(1918b) verweist. Sieht man aber davon ab, welchen Inhalt die seelische Gemütsbewegung dabei hat, ob Hass oder Liebe, ob Aggression oder Hingabe, dann bekommt ein Zweites viel mehr Gewicht, nämlich, ob dies bewusst oder unterbewusst verläuft:

»Aber es ist noch etwas anderes der Fall. Indem die Sympathie sich entwickelt, schlafen Sie in den anderen Menschen hinein; indem die Antipathie sich entwickelt, wachen Sie auf und so weiter. Das ist ein sehr kurz dauerndes Abwechseln zwischen Wachen und Schlafen in Vibrationen, wenn wir dem anderen Menschen gegenüberstehen. Dass es ausgeführt werden kann, verdanken wir dem Organ des Ich-Sinnes. Dieses Organ des Ich-Sinnes ist also so organisiert, dass es nicht in seinem wachenden, sondern in einem schlafenden Willen das Ich des anderen erkundet – und dann rasch diese Erkundung, die schlafend vollzogen wird, in die Erkenntnis hinüberleitet, das heißt, in das Nervensystem hinüberleitet. So ist, wenn man die Sache richtig betrachtet, die Hauptsache beim Wahrnehmen des anderen doch der Wille, aber eben gerade der Wille, wie er sich nicht wachend, sondern schlafend entwickelt; denn wir spinnen fortwährend schlafende Augenblicke in den Wahrnehmungsakt des anderen Ich ein. Und was dazwischen liegt, ist schon Erkenntnis; das wird rasch abgeschoben in die Gegend, wo das Nervensystem haust, so dass ich nennen kann die Wahrnehmung des anderen wirklich einen Erkenntnisvorgang, aber wissen muss, dass dieser Erkenntnisvorgang nur eine Metamorphose eines schlafenden Willensvorganges ist. So ist also auch dieser Sinnesvorgang ein Willensvorgang, nur erkennen wir ihn nicht als solchen. Wir leben nicht bewusst alles Erkennen, das wir im Schlafe erleben.«(Steiner 1919)

So weit zum Erlebnisinhalt des Ich-Sinnes und seiner Bewusstheit bzw. Unterbewusstheit. Aber wir haben ja dennoch immer noch die Frage, wie berechtigt es ist, vom Ich-Sinn als einem physischen Organ zu sprechen. Diese Frage wird von Rudolf Steiner folgendermaßen beantwortet:

»Nun entsteht die Frage: Was ist das Organ für die Wahrnehmung des anderen Ich? Was nimmt in uns das andere Ich wahr, so wie wir mit dem Sehorgan Farben oder Hell und Dunkel wahrnehmen, so wie wir mit den Ohren Töne wahrnehmen? Was nimmt das Ich des andern wahr? Die Ich-Wahrnehmung hat ebenso nun ihr Organ, wie die Sehwahrnehmung oder die Tonwahrnehmung. Nur ist das Organ der Ich- Wahrnehmung gewissermaßen so gestaltet, dass sein Ausgangspunkt im Haupte liegt, aber das ganze Gebiet des übrigen Leibes, insofern es vom Haupte abhängig ist, Organ bildet für die Ich-Wahrnehmung des andern. Wirklich, der ganze Mensch als Wahrnehmungsorgan gefasst, insofern er hier sinnlich-physisch gestaltet ist, ist Wahrnehmungsorgan für das Ich des andern. Gewissermaßen könnte man auch sagen: Wahrnehmungsorgan für das Ich des andern ist der Kopf, insofern er den ganzen Menschen an sich anhängen hat und seine Wahrnehmungsfähigkeit für das Ich durch den ganzen Menschen durchstrahlt. Der ganze Mensch, insofern er ruhig ist, insofern er die ruhige Menschengestalt, gewissermaßen mit dem Kopf als Mittelpunkt ist, ist Wahrnehmungsorgan für das Ich des andern Menschen. So ist das Wahrnehmungsorgan für das Ich des andern Menschen das größte Wahrnehmungsorgan, das wir haben, und wir sind selbst als physischer Mensch das größte Wahrnehmungsorgan, das wir haben.«(Steiner1916b)

In unserer Übersicht haben also die Sinne 10–12 gemeinsam: Schrittweise zunehmender Abbau der physikalischen Anteile der Sinnes-Wahrnehmung.

Damit ist ein Grad in der Metamorphose der leiblichen Sinne erreicht, der in dieser Richtung nicht mehr überschritten werden kann. Erstens, weil wir feststellen, dass wir selbst zuletzt nur noch ausnahmsweise – vielleicht sogar nur einmal im Leben! – ein vergleichbares Maß an Öffnung des Selbst zur Außenwelt hin erreichen können. Zweitens, weil das, was wir gewöhnlich durch die Sinne erfahren, nämlich die Öffnung des Ich zur Außenwelt hin, hier schon so tiefschlafend vollzogen wird, dass wir ohne Anthroposophie davon gar nichts wüssten. 

Mit dem Ich-Sinn ergänzt sich also die Metamorphose der zwölf Sinne zur größten denkbaren Polarität gegenüber dem Tastsinn. Denn der Tastsinn, den wir wegen seiner Grobheit ganz an den Anfang dieser Reihe gestellt haben, ist ja noch durchsetzt mit der Wirksamkeit des eigenen Willens, wie wir zeigen konnten. Erst am entgegengesetzten Ende der Reihe wird der Wille wieder zum Sinnesinhalt. Dies ist aber nicht das Wollen des eigenen, sondern eines fremden Selbst. So schließt sich also das Spektrum der Sinne, das beim Tastsinn aus den Tiefe des Seeleninneren, aus der Vermischung mit dem eigenen Willen auftaucht, dann in die seelische Außenwelt hinausgeht, erst wieder zum Kreis, indem es mit dem Ich-Sinn erneut in den Willen, nun aber in den fremden Willen eines anderen Menschen eintaucht. 

Kommen wir von hier auf den Ausgangspunkt dieser Reihe zurück und betrachten nochmals den Lebenssinn. Dieser Sinn wird bisher nur in der Anthroposophie erwähnt und vermittelt, wie bereits ausgeführt, die Gleichgewichte bzw. Ungleichgewichte der physiologischen Prozesse des Leibes so an das Ich, dass dieses sich als ein den Raum erfüllendes, leibliches Selbst empfinden kann. In den näheren Verwandtschaftskreis dieses Sinnes gehören noch der Gleichgewichts-, der Eigenbewegungs- und der Tastsinn, denen durchgehend gemeinsam ist, dass sie dem Selbst die Zustände und Veränderungen des eigenen Leibes, also seiner allernächsten Umgebung vermitteln. Diese vier Sinne werden auch als die »Willenssinne« zusammengefasst, weil sie das Leben des Ich innerhalb seiner eigenen Leiblichkeit wahrnehmen. Zusammenfassend stellt sich dieser Abschnitt des Sinneskreises folgendermaßen dar:

1. Tastsinn

2. Lebenssinn 

3. Gleichgewichtssinn

4. Bewegungssinn

Diese untersten vier zusammengenommen bilden als die »willensartigen Sinne« das unterste Glied, sozusagen die gröbste Basis der leiblichen Sinne. »Willensartige Sinne« werden sie deshalb genannt, weil ihr Bewusstseinsinhalt der relativ dumpfeste ist. Die Reihenfolge ihrer Nennung ergibt sich aus der zunehmenden Distanz ihrer Wahrnehmungssphäre vom Selbst als dem Zentrum der Seele. 

Mit der nun hinzutretenden Vierheit fassen wir die »gefühlsartigen Sinne« zusammen:

5. Geruchssinn

6. Geschmackssinn

7. Sehsinn

8. Wärmesinn

»Gefühlssinne« sind sie, weil ihr Inhalt sich unmittelbar dem Gefühl mitteilt. Ihr Wahrnehmungsinhalt ist schon weniger grob an die Leiblichkeit gebunden. Und wiederum ergibt sich die Reihenfolge ihrer Aufzählung aus der zunehmenden Entfernung ihrer Wahrnehmungssphäre vom Selbst. Ebenso gut kann man hier sagen: Die Reihenfolge ihrer Aufzählung ergibt sich aus ihrer zunehmenden Eindringtiefe in die Außenwelt.

Die vier »Gefühlssinne« eignen sich besonders gut für die künstlerische Wahrnehmung und Darstellung, weil sie leicht Urteile, man kann auch sagen »Symbiosen« untereinander, und auch mit den »willensartigen Sinnen« eingehen. Beispiele dafür liefern uns die Symbiosen des Sehsinns mit dem Geschmackssinn oder auch mit dem Wärmesinn, indem wir ebenso gerne von »feurigen« oder auch »kalten« Farben, wie von »süßen« oder »sauren« Farben, und, bei allem Künstlerischen überhaupt, vom guten oder schlechten »Geschmack« sprechen. Ebenso können aber auch Gerüche und Geschmäcker Symbiosen mit dem Lebenssinn eingehen, sodass wir von »betäubenden«, »appetitlichen« oder »frischen« wie auch von »widerwärtigen« und »ekelerregenden« Gerüchen und Geschmäckern sprechen.

Die nun noch ausstehenden vier Sinne sind weitaus stärker vom Denken geprägt als vom Gefühl, weshalb man sie als die »vorstellungsverwandten Sinne« zusammenfassen kann. Das zeigt sich schon beim Hörsinn, der wesentlich intellektualistischer ist als die zuvor genannten Sinne. So sprechen wir beim Hören einer Trompete zumeist nicht davon, wie hochfrequent und metallisch sie klingt, sondern sagen gleich: »Das ist eine Trompete«. Ebenso verfahren wir beim Zuschlagen einer Autotüre, beim Bellen eines Hundes oder Vorbeidonnern eines Güterzuges: Wir gehen nicht ein auf die besonderen akustischen Merkmale des Gehörten, sondern nennen gleich den Begriff.

Die hier gewählte Reihenfolge der Aufzählung der »vorstellungsverwandten Sinne« ergibt sich aus dem zunehmenden Maß an Zurückdrängung der primären Sinnesqualitäten. Ebenso gut kann man hier sagen: Die Reihenfolge der Aufzählung ergibt sich aus dem zunehmenden Maß an seelischer Transparenz der primär physikalischen Anteile der Sinnesqualitäten.

 9. Hörsinn 

10. Sprachsinn

11. Begriffssinn

12. Ichsinn

So erkennen wir erst im Überblicken dieser denkbar größten Polarität der Sinne die phänomenale Wahrheit, dass in dieser zwölfgliedrigen Metamorphose wirklich eine organische Ganzheit vor uns steht. Für das Erlebnis der abgeschlossenen Ganzheit dieser Reihe eignet sich keine Darstellung besser als die Kreisform (Abb. 2).

Doch bei genauerem Zusehen gibt diese Form nur ungenau wieder, worum es sich eigentlich handelt: Nehmen wir das Innere des Kreises als Symbol des Innerseelischen und alles, was sich außen herum befindet, als Symbol des außerseelischen Erlebnis-Raumes. Dann erweist sich, dass die willensverwandten Sinne insgesamt noch sehr dem innerseelischen Erlebnis-Raum verhaftet sind, am weitesten innen der Tastsinn: Sein Hauptorgan ist die Haut, in die er völlig eingeschlossen ist. Zusätzlich wird er durchdrungen vom Erlebnis des eigenen Willens, wenn wir auf etwas Physisches Druck ausüben. Auch die Erlebnisse des Lebenssinnes sind in die Haut eingeschlossen. Aber was dabei wahrgenommen wird, ist nur noch die physiologische Wirkung der eigenen Willenstätigkeit, nicht mehr deren seelischer Inhalt. So zeichnet sich vom Lebenssinn über den Eigenbewegungssinn bis hin zum Gleichgewichtssinn ein schrittweise zunehmender Einbezug des seelischen Außenraumes ab. Dieser wird beim Gleichgewichtssinn zum Gleichmaß zwischen innen und außen. Zwar hat der Gleichgewichtssinn sein Zentralorgan in den Bogengängen des Innenohres. Er kommt aber nicht ohne das Kriterium des äußeren Raumbezuges aus. Das zeigt die Tatsache, wie schwer wir es haben, mit geschlossenen Augen auf einem Bein zu stehen. Das ganze optische System ist also, in Zusammenarbeit mit dem Kleinhirn, ebenfalls an der Gleichgewichtswahrnehmung beteiligt. 

Die vier »Gefühlssinne« gehen schrittweise vom Geruchssinn bis zum Wärmesinn weiter hinaus in den Außenraum, bleiben aber der Grenze zwischen dem Innerseelischen und dem Außerseelischen dennoch insofern verhaftet, als sie unmittelbar auf die physischen Sinnesreize angewiesen sind. Deshalb gehen sie auch noch die mannigfaltigsten Symbiosen mit den »Willenssinnen« ein. 

Das ändert sich erst beim Hörsinn, dem untersten der »Denksinne«. Einerseits dringt er tiefer in die Körper der Außenwelt ein als irgendein Sinn aus der Reihe unter ihm. Andererseits verbindet er sich so stark mit dem Denken, dass er schon die Tendenz hat, die primären Sinnesqualitäten im erkennenden Urteilen zurückzudrängen. Diese Tendenz setzt sich dann sowohl in der Zurückdrängung der primären Sinnesqualitäten als auch in der Öffnung zu einer fremden Geistigkeit über den Sprach- und den Denksinn fort. Im Ich-Sinn wird zuletzt die Innen-Außen-Grenze zum Willen eines anderen Menschen noch vollends aufgelöst. Wenn man das graphisch ausdrücken würde, ergäbe sich eine spiralige Gestalt, die den Sinneskreis so überlagert, dass alles, was noch ganz innerhalb der Innen-Außen-Grenze liegt – zum Beispiel beim Tastsinn –, sich zuletzt beim Ich-Sinn ganz außerhalb des Kreises befindet. Diese Umkehrung des Inneren in das Äußere gibt also dem Sinneskreis die Eigenschaften einer Lemniskate, durch die sich die Willensaktivität des Wahrnehmens schrittweise von der noch leibverbundenen Innenseite bis in die Außenwelt verlagert. 

 

 

5. Rückblick

 

Kommen wir nun auf die Goethe-Worte zurück, die den Darwinismus so wunderbar vorweg nehmen:

»Wär´ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken.«

(J. W. von Goethe: Zahme Xenien) 

Unter diesem Motto können wir nun an zahlreichen Beispielen betrachten, wie die Formen unserer Sinnesorgane immer wieder Hinweise auf die Bildekräfte geben, die sie hervorgebracht haben. Am besten bekannt dürfte dies just bei dem Sinnesorgan sein, das Goethe zum Fokus seiner Xenie gemacht hat: das Auge. Hier erübrigt sich geradezu eine bildliche Darstellung, denn allzu bekannt ist ja, wie das Auge ganz nach den Gesetzen der Lichtbrechung gestaltet ist und deshalb schon immer mit einer »Kamera« verglichen wird.

Fahren wir hierzu fort mit dem Gleichgewichtssinn: Er hat als seine zentrale Grundlage die drei Bogengänge im so genannten Labyrinth des Innenohres (Abb. 3). Die Gestalt der Bogengänge ist weniger allgemein bekannt als die Gestalt der Augen, schon allein deshalb, weil sie nicht von außen sichtbar ist. Was wir in Abbildung 3sehen, ist ein Ausguss des Innenraumes des Felsenbeines, des dichtesten Knochens des Menschen überhaupt, der tief und zentral, dicht oberhalb des Hinterhauptloches verborgen ist, wo das Stammhirn in das Rückenmark übergeht. Das Felsenbein enthält nicht nur das Labyrinth, sondern auch die sogenannte Hörschnecke. Die Hörschnecke ist der innerste, nervöse Anteil unseres Hörsinnesorganes, das in gewisser Weise den ganzen dreigliedrigen Menschen im Kleinformat nachmodelliert: Dieses Nachmodellieren beginnt weit außen mit der äußeren Ohrmuschel, die sich dem Schall wie ein Trichter öffnet und bei vielen Säugetieren gliedmaßenartig beweglich ist. Folgt man von dort dem Weg des Schalles, so kommt man über den äußeren Gehörgang zum Trommelfell, gelangt von dort durch das Mittelohr über die Kette der drei Gehörknöchelchen und das ovale Fenster (siehe Abb. 3) bis zur Hörschnecke des Innenohres, also von ganz außen bis beinahe zum innersten Punkt an der Basis des Schädels. Auf dem Foto ist von diesem weiten Weg allerdings nur das Innenohr zu sehen. Man sieht dort rechts die Schnecke, links die Bogengänge. 

Abb. 3: Das Innenohr; Bogengänge (links) und Hörschnecke (rechts). (Foto: Welleschik, Lizenz CC-BY-SA 3.0, aus Wikipedia)

Die sich einwärts drehende Spirale der Ohrschnecke gibt sehr bildhaft die Innerlichkeit wieder, die uns der Hörsinn beim Hören von der inneren Qualität, von der »Seele« der Körper der Außenwelt vermittelt. Hierfür gibt es kein passenderes Bild als die Schnecke. Das Organ der Hörschnecke verhält sich dabei im physischen Raum polar zu den Vorgängen, die im ätherischen Raum des Hörens geschehen: Wie der Hörsinn ätherisch in die gehörte Außenwelt »hinausgreift«, so »schraubt«sich physisch die Hörschnecke nach innen, in den dichtesten Knochen des Organismus, in das so genannte Felsenbein!

Nun zu den Bogengängen: Sie sind links im Bild zu sehen und bestehen aus drei kreisrunden flüssigkeitsgefüllten Kanälen. Ihre Dreiheit bildet die drei Richtungen des Raumes ab, in die hinein der Mensch sein Gleichgewicht empfindet und zu bewahren hat: Der hintere Bogengang nimmt das Drehen in der Richtung der Körperachse wahr, also die Situation, die typischerweise den Drehschwindel erzeugt. Der seitliche Bogengang nimmt das Seitwärtskippen des Kopfes wahr, also den Gleichgewichtsverlust in der Sagittalebene des Körpers, und der obere Bogengang das Umfallen in der Frontalebene, also nach vorne oder hinten.

Abb. 4:Geruchslabyrinth des Menschen im Röntgenquerschnitt. (Aus Waldeyer2002)

 

Betrachten wir als viertes Beispiel noch das Organ des Riechsinnes, das Labyrinth der Nase (Abb. 4). Seine Gestalt ist noch weniger allgemein bekannt als die Gestalt der Bogengänge und der Schnecke des Innenohres. Deshalb zeigen wir ein Röntgenbild von der Nasen-, Oberkiefer- und Stirnregion des Menschen, dessen Schnittverlauf auf dem linken Bildteil ersichtlich wird. Das Geruchslabyrinth, das von den Nasenmuscheln gebildet wird, befindet sich in der Mitte der Abbildung, zwischen der Hirnhöhle (oben), den beiden Augenhöhlen, den beiden Kieferhöhlen (direkt unter den Augen) und der Mundhöhle. Seine Gestalt begreifen wir, wenn wir bedenken, wie wir die Substanzen der Außenwelt riechen: Nur wenn sie als Gase in der Atemluft bewegt werden, können wir sie riechen. Die Nasenmuscheln offenbaren also ihre Bildekräfte erst dann, wenn wir sie mit den Strömungswirbeln der Atemluft vergleichen (Abb. 5). Die Fotografie zeigt einen typischen Strömungswirbel, wie man ihn in einer Flüssigkeit oder einem Gas erhält. Die Ähnlichkeit dieser Wirbelformen mit den menschlichen Nasenmuscheln ist unverkennbar. 

Abb. 5:Typischer Strömungswirbel. (Aus Brettschneider 2009)

So könnte man Stück für Stück die Gestalt des menschlichen Körpers aus den Sinnesqualitäten der Außenwelt herleiten, die als plastizierende Bildekräfte den Körper über die Sinne im Zeitverlauf der Evolution geprägt haben. Doch bei näherem Zusehen stellt sich heraus, dass es noch eine zweite Quelle für die Bildekräfte gibt, die an der Gestalt des Menschen formen. 

Aus Rudolf Steiners unvollenderter Schrift »Anthroposophie. Ein Fragment« erfahren wir, dass diese zweite Quelle nicht dem Umkreis, sondern polar dazu den dunkelsten Tiefen der Menschenseele entstammt. Diese zweite Art von Bildekräften, die der inneren Tätigkeit des menschlichen Willens entstammen, schaffen sich ebenso ihre »Lebensorgane«, wie sich die Bildekräfte der Außenwelt die ihr zugewandten »Sinnesorgane« geschaffen haben. Diese »Lebensorgane« stehen nicht wie die Sinnesorgane im Dienste der Welterkenntnis, sondern sind polar dazu die Organe der Selbstverwirklichung des menschlichen Willens, stehen also im Dienste der Weltgestaltung. Wir haben es also mit einer zweifachen Herkunft der Bildekräfte des menschlichen Organismus zu tun, die gemeinsam den Organismus, jedoch aus jeweils entgegengesetzten Richtungen formen. 

Abb. 6:Der Knochenmensch des Andreas Vesalius, Tafel 21 (1543).

Mit Hilfe von Zeichnungen des Andreas Vesalius, eines flämischen Anatomen des 16. Jahrhunderts, lässt sich diese zweite Art der Bildekräfte mit den so weit schon Dargestellten zusammenschließen. Wir beginnen mit einer Zeichnung, die sich auf das Knochensystem des Menschen konzentriert (Abb. 6). Sie wurde vom Autor schon im Zusammenhang eines alchemistischen Substanzbegriffes reproduziert und besprochen (Brettschneider2012). Der Knochenmensch des Andreas Vesalius ist im Grunde identisch mit dem Teil des Menschen, den wir so weit als den aus den Sinnesprozessen geformten beschrieben haben. Das wird uns besonders evident, wenn wir beachten, wie alle Knochenbildung ebenso ihren Schwerpunkt im Kopf hat wie das Nervensystem. Und wie das Nervensystem sich dreifach gliedert in das Gehirn mit den Kopfnerven, das Rückenmark mit den Rückenmarksnerven und das vegetative Nervensystem mit den Bauchnerven, so gliedert sich auch das Knochensystem des Menschen dreifach: Dreifach wird der Organismus durch einen Verknöcherungsimpuls erfasst, und dreifach schwächt sich dieser jeweils nach unten hin ab. Sein erstes Eingreifen geht vom Schädel selbst aus. Er ist der überhaupt stärkste Verknöcherungsprozess des Menschen und erfährt über den filigranen Brustkorb hinweg bis in die Bauchhöhle hinein eine ebenso starke Abschwächung. Deshalb ist die Bauchhöhle völlig knochenlos. Ein zweiter Verknöcherungsimpuls beginnt im Bereich der schaligen Schulterblätter und schwächt sich über die geschwungenen Schlüsselbeine bis in die filigranen Hände hinein ab. Und schließlich setzt ein dritter Verknöcherungsimpuls im Bereich der Beckenschaufeln ein und klingt über die geschwungenen Hüftgelenke bis in die filigranen Füße hinein ab. 

Der Kopf ist also ebenso der Schwerpunkt der Knochenbildung, wie er andererseits auch der Ausgangspunkt der Sinnestätigkeit ist, insofern die Sinnesorgane größtenteils mit dem Gehirn zusammen am und im Kopf zentriert sind. So lässt sich an der rasanten Gehirnentwicklung des Frühmenschen nach der Vollendung des Sprachgebisses ablesen, dass das Großhirn das Organ des Begriffssinnes und das ganze Nervensystem das Organ des Ich-Sinnes ist. Indem also der Schwerpunkt des Nerven-Sinnes-Systems mit dem des Knochensystems zusammenfällt, erscheint es überaus zutreffend, wie Rudolf Steiner die Gehirnbildung als eine »zurückgehaltene Knochenbildung« charakterisiert: 

»Man wird das Gehirn des Menschen nur begreifen, wenn man in ihm die knochenbildende Tendenz sehen kann, die im allerersten Entstehen unterbrochen wird. Und man durchschaut die Knochenbildung nur dann, wenn man in ihr eine völlig zu Ende gekommene Gehirn-Impulswirkung erkennt [...].« (Steiner1925: 42)

Gegenständlich gesehen besteht das Gehirn im Unterschied zum Knochen nicht aus Kalk. Aber bezüglich der Bildeprozesse stimmen das Knochensystem und das Nervensystem darin überein, dass sie die beiden einzigen Organsysteme des Menschen sind, die nicht nur Zellmembranen, sondern auch Zellwände haben. Zellwände aber kennen wir sonst nur vom Pflanzenreich – dort allerdings durchgehend bei allen Geweben. Dass tierische Gewebe zumeist keine Zellwände, sondern nur Zellmembranen besitzen, kann man als naturwissenschaftlicher Laie schon im Alltag und ganz ohne Mikroskop bemerken: Die faulenden Stellen an Gemüse oder Obst lassen sich zumeist schadlos herausschneiden, wohingegen Tierfleisch immer gleich im Ganzen verfault, da dort keine Zellwände die Ausbreitung der Fäulnisprozesse behindern.

Diese in der Biologie, aber auch in der Medizin wenig beachtete Tatsache beruht darauf, dass lebende Pflanzengewebe nicht nur aus lebenden Zellmembranen, sondern auch aus abgelagerten Zellwänden bestehen. Bei den Tieren und im Menschen ist dies hingegen nur ausnahmsweise der Fall, nämlich nur im Knochen- und im Nervengewebe. Die lebendigen Zellmembranen der Pflanzen, Tiere und des Menschen bestehen aus Eiweiß und umhüllen das lebende Plasma der Zellen. Zellwände andererseits liegen, wo sie überhaupt vorkommen, stets außerhalb der lebendigen Zellmembranen. Bei den Pflanzen bestehen sie aus Zellulose, in den Knochen von Tier und Mensch aus Kalk, im tierischen und menschlichen Nervengewebe aus Lipoproteinen. Letztere sind stark fetthaltige, für Wasser undurchlässige Eiweiße. Diese sind als Substanzen sogar weit weniger wiederverwendbar innerhalb des Organismus als die Kalksalze der Knochenzellwände. Bei den Bäumen besteht die Hauptmasse des Organismus aus der Zellulose abgestorbener Zellwände, die als Holz im Innern der Wurzeln, Stämme und Zweige irreversibel abgelagert werden. Nur die grünen Blätter, sowie eine dünne Schicht lebendigen, grünen Gewebes unter der Rinde, der sogenannte Bast, bestehen aus lebendem Gewebe, sodass dort die Pflanzenzellen im Inneren ihrer Zellwände noch eine Zellmembran aus Eiweiß besitzen. Die aus Kalk bestehenden Zellwände der Knochenzellen der Tiere und des Menschen sind also beinahe so tot wie das Holz der Baumstämme, aber nur beinahe, denn ein gewisser Teil der Knochenmasse besteht aus »labilem« Kalk, der noch nicht ganz aus dem Leben ausgeschieden ist und daher noch für den Organismus verfügbar bleibt (Gehlig2008). Insgesamt ist also eine prozessuale Verwandtschaft der Zellwände der Nervengewebe mit den Knochen und dieser mit dem Holz der Pflanzen unverkennbar.

Abb. 7:Der Muskelmensch des Andreas Vesalius, Tafel 25 (1543).

 

Der Muskelmensch andererseits, den Vesalius meisterhaft darstellt (Abb. 7), lässt sich zeichnerisch eigentlich gar nicht darstellen, denn er ist kein Gewordener, sondern in jedem Moment seines Bestehens ein Werdender. So ist nur seine Substanz, aber nicht seine Gestaltsinnlich wahrnehmbar. Auch diese Zeichnung wurde vom Autor schon im Zusammenhang eines alchemistischen Substanzbegriffes reproduziert und besprochen (Brettschneider2012). Nur in seiner Verbindung mit dem Knochenmenschen, zu dem wir auch die Oberhaut und die Bindegewebshüllen der Muskulatur rechnen müssen, existiert er real. Der eigentliche Muskelmensch offenbart sich deshalb nach außen allein in der Bewegung und nach innen im ständigen Hervorbringen, Vernichten und Ausscheiden lebendiger Leibessubstanz. Das Letztere wird erst deutlich, wenn wir auch das Darm-, Blut-, Drüsen- und Urogenitalsystem zum Muskelmenschen zählen, das im Unterschied zu den Gliedmaßen komplett aus Muskeln und Drüsen besteht, also keine Knochensubstanz enthält. Es bleibt tags und nachts in Bewegung, ohne je zu ermüden. Und seine Prozesse verlaufen noch tiefer unterbewusst als die Krafterzeugung der Gliedmaßenmuskulatur, die der Willkürbewegung zugrunde liegt. Deshalb wird in der Anthroposophie das Darm-, Blut-, Drüsen- und Urogenitalsystem mit dem Gliedmaßensystem in dem Begriff des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems zusammengefasst und dem Nerven-Sinnes-System polar gegenübergestellt.

In der vollen Wirklichkeit wird der Knochen- und Sinnesmensch der Abbildung 6durch den Muskelmenschen der Abbildung 7so ergänzt, dass keiner der beiden ohne den anderen auskommt: Der Knochenmensch könnte ganz selbstverständlich nicht ohne den Muskelmenschen bestehen, denn er würde unweigerlich in sich zusammenbrechen und sich ohne den Muskelmenschen gar nicht erst erheben. Trotz ihrer Beweglichkeit geht die Substanz des Muskelmenschen ebenso wie die Haut-, Knochen- und Bindegewebesubstanz in die Gesamtgestalt des Menschen ein, aber eben nicht als ein lastend-statischesElement wie die Knochensubstanz, auch nicht als ein peripher-begrenzendesElement wie die Haut, sondern polar dazu als ein zentrifugal-aufstrebend-dynamischesElement. So ergibt sich eine horizontale Zweigliederung des Menschen in den Kopfmenschen einerseits, der sich als Außenskelett offenbart, und den Rumpf-Gliedmaßenmenschen andererseits, der nahezu vollständig von Muskulatur bedeckt ist, also ein Innenskelett bildet. Insofern der Kopfmensch mit seinem Außenskelett den Bauplan der Nicht-Wirbeltiere (Avertebraten) wiederholt, ist er – typologisch gesehen – der ältere und der Rumpf-Gliedmaßenmensch der neuere Teil des Menschen. Typologisch gesehen ist also insofern der Kopf älter als der Rumpf-Gliedmaßenmensch. 

Zwar kann man die lebendige Muskulatur, wie dies Vesalius ja auch tut, als Kontur zeichnen, doch ihre Deutlichkeit verdankt sie nicht der nahezu flüssigen, sehr blutähnlichen, eigentlichen Muskelsubstanz, sondern den bindegewebigen Muskelfaszien, die dem kontrahierten Muskel erst die Härte geben. Die Gesamtgestalt des Menschen resultiert also letztlich aus dem Zusammenklang des treibenden, beweglichen Muskelmenschen mit dem zur Verknöcherung und Verhärtung neigenden Knochen- und Nerven-Sinnesmenschen, dessen Metamorphose wir auch in den Muskelfaszien und allen Elementen des Muskels zu sehen haben, die diesem seine sichtbare Form geben. 

Der Muskel- oder auch Willensmensch ist also der Mensch im Menschen, den wir so weit nahezu unberücksichtigt gelassen haben, da unsere primäre Fragestellung den Sinnesmenschen sucht. Die Kraftquellen des Willensmenschen wirken polar zum Sinnesmenschen von innen nach außen und von unten nach oben. So gewinnt man durch den künstlerischen Blick des Andreas Vesalius beim Betrachten der Abbildung 7den Eindruck, der Willensmensch sei auf dem Wege, von der Erde abzuheben und in den Himmel aufzuschweben, trüge er nicht den Sinnes- und Knochenmenschen als ausgleichende Beschwerung und als Ruhepunkt der vernünftigen Besinnung in sich. 

Betrachten wir nun diesen Gegensatz näher, wie er von Vesalius dargestellt ist, so fällt uns besonders auf, dass der Knochenmensch nicht etwa ein Tragender ist, wie man es gemeinhin dem Skelett zuzuschreiben gewohnt ist, sondern geradezu polar dazu einLastender. Dies wird bei Vesalius, der eben doch ein Künstler und nicht bloß ein Anatom ist, sehr mitfühlend durch die Notwendigkeit eines Krückstockes am rechten Unterarm verbildlicht. Die ganze Macht des Lastens geht dabei aber dennoch nicht von dort, sondern vom Kopf aus, dem Zentrum aller Sinnestätigkeit, wie dies uns die nun folgende Abbildung 8 sehr eindringlich mitteilt. 

 

 

Abb. 8:Der sinnende Knochenmensch des Andreas Vesalius, Tafel 79 (1543).

Vesalius versieht diese Abbildung mit einem Kommentar, der auf das Totenreich (die Styx) anspielt: 

»All splendor is dissolved by death, and through 

The snow-white limbs steals Stygian hue to spoil 

The grace of form.«

»Aller Glanz löst sich auf im Tod, und durch

Die schneeweißen Glieder schleicht der Farbhauch der Styx, 

Die Grazie der Form zu verderben.«

Das Lasten des Knochenmenschen, das wir dieser Zeichnung entnehmen und besonders vom Kopfe, dann jeweils erneut, aber schon weniger lastend, von den Schultern und den Beckenschaufeln ausgehend sehen, will uns gut zur Schwere und Starrheit der Knochensubstanz passen, nicht aber zum Begriff der Sinnesfreude. Ist nicht vor allem die Knochensubstanz des Kopfes der Ausdruck der Schwere des Erdwesens? Und ist es nicht die Finsternis des Erdmittelpunktes, zu dem uns die Schwere des Kopfes zieht?

Dass wir hier an den Tod gemahnt werden, der zu uns aus dem Anblick des Knochenschädels spricht, dazu passt, dass ja gerade die höchsten Sinne, der Sprach- und der Begriffssinn und noch mehr der Ichsinn, vom Abbau des physischen Anteiles der Sinneswahrnehmung geprägt sind. Sollte diese Dominanz des Abbaues möglicherweise auch für die anderen Sinne gelten?

Wir könnten nun alle Sinne einzeln auf diese Frage hin durchgehen, aber wir erinnern uns zuerst, dass ja der Gleichgewichtssinn – als der Ausgangspunkt der innersten, willensverwandten Sinne – seine drei Bogengänge in das Felsenbein, den dichtesten Knochen des Körpers, hineinverlegt. Und dort hinein ist auch die Schnecke des Hörsinnes vermauert, von dem die äußersten, die vorstellungsverwandten Sinne ausgehen. Sollte dies Zufall sein? 

Beziehen wir also auch den Tastsinn in die Fragestellung mit ein, da er ja am untersten Ende des Sinnesspektrums steht, vom Ichsinn am weitesten entfernt. Sein wichtigstes Organ ist die Haut, und diese ist der direkten Beobachtung besser zugänglich als irgend ein anderes Sinnesorgan: Die sogenannten Tastkörperchen als Rezeptoren des Tastsinnes sind über die gesamte Hautoberfläche des Körpers verteilt, und kein anderer Sinn belehrt uns brutaler als der Tastsinn, dass wir auf der Erde leben. Dort umgeben uns harte Gegenstände , die uns aufwecken, und weiche, die uns einschläfern. Deshalb brauchen wir weiches Bettzeug und kneifen uns in den Arm, wenn wir sicher sein wollen, dass wir nicht träumen. Deshalb wissen wir erst ganz sicher, dass wir und wo wir erwacht sind, wenn unsere Hand gegen die harte Wand neben dem Bett stößt, und deshalb streicheln wir den anderen Menschen, um ihn zu beruhigen. All dies macht uns darauf aufmerksam, dass es die Haut des Menschen ist, die uns im Verein mit dem Knochengerüst nicht nur die äußere Gestalt gibt, sondern auch die härtesten Begriffe von der Wirklichkeit vermittelt. So fehlt uns nur noch der Beweis, dass auch die Haut ihre Gestalt durch einen Todesprozess erhält, der sie von außen, also zentripetal abbaut. 

Und in der Tat: Die äußerste Schicht der Haut, die sogenannte Hornzellschicht,entsteht durch einen Bildeprozess, oder besser Absterbeprozess, der schon viel tiefer in der Haut, in der sogenannten Körnerschicht der Haut beginnt und sich von dort nach außen zunehmend so auswirkt, dass die Hautzellen absterben, indem sie verhornen. Durch dieses nach außen hin zunehmende Absterben und Verhornen unterscheidet sich die Epidermis (Oberhaut) von den nicht verhornenden Oberflächengeweben des Mundes und der Harnwege. Letztere bezeichnet man deshalb als »Übergangsepithelien« zwischen der Außenhaut und den Abschlussgeweben der inneren Hohlorgane, da sie noch keine echten »Schleimhäute« sind. Die echten »Schleimhäute« der inneren Organe tragen (wie z. B. die Schleimhäute des Darmes und der Bronchien) vor allem schleimbildende Zellen, die im vollen Gegensatz zur Oberhaut nicht zentripetal absterben, sondern ihre lebendigen, schleimartigen und enzymatisch wirksamen Substanzen zentrifugal versprühen. Andererseits erhält die äußere Epidermis des Leibes erst durch ihre Verhornung die Festigkeit, die sie zur »Oberhaut« macht. Und nur weil die ständig in die Außenwelt hinein körnig zerfallenden Zellen der Oberhaut fortlaufend durch jugendliche Hautzellen ersetzt werden, erstarrt unsere Außenhaut nicht völlig zum toten Hornpanzer, sondern bleibt jung und elastisch. Der gestaltgebende, zentripetal wirkende Todesprozess eines Sinnesorgans tritt uns also nirgends direkter vor Augen als an der Hautoberfläche. Dazu will nun auch gut passen, dass die Zonen der Oberhaut, die den Tastsinn am sensibelsten ausbilden, zum Beispiel unsere Fingerkuppen, mit ihrer Sensibilität zu den wohl individuellsten und zugleich unveränderlichsten Gestaltbildungen des Organismus gehören: Hier verlaufen die Fingerlinien, die, indem sie unsere »Fingerabdrücke« in der Außenwelt hinterlassen, zu den wichtigsten Grundelementen der Kriminalistik gehören: Wie die »Biometrie« des menschlichen Gesichtes mit den Augen, erscheint also auch die »Biometrie« der »Fingerabdrücke« unzertrennlich mit der »Sinnlichkeit« des Menschen verknüpft.

Auch unsere Haarebilden sich in vergleichbarer Art durch Verhornung aus Haarwurzeln, die so eng mit den Lebensorganen verbunden sind, dass sich deren Bezug zur Vitalität dem Betrachter in der Anmut und Pracht und dem ganzen Stolz des Haarschopfes offenbart. Im Unterschied zur flächigen Lederhaut entwickelt sich der Verhornungsprozess der Haare strahlig von jeweils einer lebendigen Haarwurzel aus. Daraus ergibt sich die fließend-feine Gestalt der Haare. Weil aber unsere Haare sich dabei noch weiter vom Leben entfernen als unsere Lederhaut, können wir sie abschneiden, ohne dabei Schmerz zu empfinden. Doch die Notwendigkeit zum Beschneiden der Haare besteht nur am Kopf, da das menschliche Haarkleid überall sonst am Körper zu wachsen aufhört, sobald es sein menschengemäßes Maß erreicht hat. Nur am Kopf sind wir genötigt, die Haare immer wieder abzuschneiden, wohingegen gerade dies für die ansonsten ja viel üppiger behaarten Säugetiere nicht zutrifft. Säugetiere müssen vor allem ihre Krallen und Hufe durch täglichen Gebrauch kurz halten. Warum aber muss nur der eigentlich so spärlich behaarte Mensch seine Haare ausschließlich am Kopf zurückschneiden?

Uns scheint, als weise diese zuletzt genannte Tatsache auf die besondere Metamorphose der Sinnesprozesse hin, die sich beim Menschen über das Maß des Tieres hinaus in die Entwicklung des Sprach-, Gedanken- und Ichsinnes hinein fortsetzt. Und diese letzteren sind mehr als alle anderen Sinne mit der Kopf- und Gehirnbildung verknüpft. Die Entwicklung des Sprach-, Gedanken- und Ichsinnes ist jedoch keine »Evolution«, sondern eine »Devolution«des Sinneslebens. Diesbezüglich hatten wir ja schon bemerkt, inwiefern nichtAufbau, sondern Abbauder Sinnesprozesse über die tierischen Sinne hinaus in der hier geschilderten Weise dazu führt, dass sich zuletzt im Ichsinn sogar die Grenze zum Willen des anderen Iches aufhebt. Die menschliche Gestalt scheint uns dies in zweifacherWeise auszudrücken: In der Aufrichtung der ganzen Gestalt in die Senkrechte hinein und in der grenzenlos wachsenden Behaarung des Kopfes. Letztere scheint uns überdies noch den Wesensunterschied des Mannes und der Frau zu spiegeln: In der Betonung des Scheitelhaares offenbart sich die Weisheit der Frau. Die Betonung des Bartes offenbart den Willen und die Kraft des Glaubens im Manne.

So lernen wir ein Zweifaches über den Körper des Menschen. Was dem Sinnesprozess als Motivation seelischzugrunde liegt, ist die Sehnsucht der Seele nach der Wahrheit außerhalb des eigenen Selbst. Aber diese Sehnsuchtdes Sinnesmenschen bindet ihn polar dazu an die eigene Leiblichkeit: Substanziellgesehen ist der Sinnesmensch, wie wir immer wieder feststellen konnten, ein sterbender, ein der Schwere und Dunkelheit seiner irdischen Substanzialität verfallender Mensch. Mit anderen Worten: Die Gestaltungdes Körpers durch die Sinneerweist sich in substanzieller Hinsicht als Abbau- und als Todesprozess.Abbauund Todscheinen damit unerlässlich für das seelische Erwachenaußerhalb des eigenen Selbst.

All diesem steht der Willensmensch polar entgegen: Jede Bewegungdes Körpers wirkt als Belebungsprozess. Substanziell belebt der Wille also den Menschen und befreit ihn zugleich von der Erdenschwere. Doch seelisch betrachtet ist der Willensmensch in den Grenzen seiner Egoität gefangen. Seine Instinkte, Triebe und Begierden müssten ihn unvermeidlich in den Hochmut und Egoismus treiben, stünde ihm nicht der Sinnesmensch entgegen, der stets danach strebt zu finden, was im Licht der Erkenntnis jenseits der Grenzen des eigenen Selbst liegt.

 

Sinnesprozesse, für sich allein wirkend, führen den Menschen leiblich in die Erstarrung und in den Tod. Willensprozesse andererseits wirken belebend. Für sich allein, ohne das nötige Gegengewicht der Formung, führt aber diese Belebung in die Auflösung und damit ebenso in den Tod. Beide Prozesse, für sich allein wirkend, bringen also dem Menschen unausweichlich Krankheit und Tod, wenn auch jeweils auf polarische Weise. So bemerken wir staunend, dass der Mensch die Möglichkeit zur Freiheit offenbar nur im Gleichgewicht seiner doppelten Organisation erreicht: Seine Sehnsucht nach Erkenntnis der Wahrheit führt ihn in die Erstarrung der Knochen und Nerven und bindet ihn substanziell an die Kälte und Dunkelheit der Erde. Und der Teil des Organismus, der den Menschen aus dem Egoismus seiner Lebensorgane antreibt, lässt ihn hochmütig von der Erde abheben und sich in unbestimmte Weiten verlieren. So ergibt sich, dass der Mensch die Ziele seiner Freiheit nur im Gleichmaß beider Richtungen, die jede für sich genommen Krankheit und Tod bedeuten, zu verwirklichen vermag.

Begriffe wie »Abbau« und »Tod« warten also ebenso wie »Aufbau« und »Belebung« darauf, angesichts der dialektischen Doppelnatur des Menschen neu erfasst zu werden. Dazu fand schon Goethe zukunftsweisende Worte:

Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und Werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

(J. W. von Goethe: Selige Sehnsucht, West-Östlicher Diwan)

 

 

6. Tiefblick 

 

Ausgehend von den traditionellen Vorbehalten der großen Weltreligionen gegenüber jeglicher Sinnlichkeit und angesichts der Konfusion populärer Sinnlichkeitsbegriffe, führte unsere Suche nach Klarheit vorbei am Solipsismus, der von Descartes´ »Ich denke, also bin ich« bis zu einer heute weltweit dominanten, in Deutschland beispielsweise durch Metzinger vertretenen, materialistischen Philosophie führt, die menschliche Sinneswahrnehmung letztlich als nur »virtuell«erklärt. Zugleich damit waren wir auf die darwinistische Erkenntnistheorie gestoßen. Obgleich ebenfalls materialistisch, stellt diese sich dem philosophischen Solipsismus diametral entgegen, denn sie hält die Sinneswahrnehmung der Tiere und des Menschen für »objektiv«,insofern sie ein wirksamer Faktor der Evolution ist. Der Darwinismus kommt dabei anhand seiner Beobachtungen zu dem Ergebnis, dass die Sinneswahrnehmung der Tiere in hohem Grade »abstrakt« ist, da sie nur die innerhalb des Organismus gültigen Bewertungen auf die Außenwelt projiziert. So müsste der Darwinismus dem traditionellen Solipsismus also letztlich Recht geben, wenn sich erwiese, dass die Sinneswahrnehmung des Menschen und der Tiere gleichartig ist. 

So gehört die Frage, ob der Mensch nur ein höheres Tier und damit nicht mehr als nur ein Teil der Natur ist, zu den tiefsten Fragen des Menschseins: Kann ein Wesen frei und damit moralisch verantwortlich sein, das nur seine eigenen Bewertungen in der Außenwelt vorfindet, und nicht auch die Eigenschaften der letzteren? Angesichts der Aporie (= unauflöslicher Widerspruch) zwischen dem »naiven« Realimus der Solipsisten undder Darwinisten,wandten wir uns zuletzt der Anthroposophie zu. Diese schlägt eine Sinneslehre des Menschen vor, die das menschliche Sinnesspektrum über das tierische hinaus erweitert: Sprach-, Gedanken- und Ichsinn sind drei zusätzliche Sinne des Menschen, die in der genannten Reihenfolge zunehmend den primären Sinnesprozess und die damit verbundenen inneren Bewertungen zurückdrängen. Das befähigt die menschliche Seele, ihre –qualitativ gesprochen – äußeren Grenzen zu überschreiten und sich objektiv mit den Gegenständen, Vorgängen und Wesenheiten der Außenwelt zu verbinden.

Welches sind die physiologischen Grundlagen der Fähigkeit, primäre Sinnesprozesse und die mit diesen verbundenen inneren Bewertungen abzubauen?

Hierzu kommen wir auf die bereits angedeutete Unterscheidung zwischen »Selbstbewusstsein«und »Ichsinn«zurück. Erkennt man an, dass der Mensch, wie es hier im 4. Kapitel beschrieben ist, einen »Ichsinn«hat, der ihn befähigt, das »Ich«eines anderen Menschen als eine Wesenheit wahrzunehen, so muss man damit zugleich anerkennen, dass das Bewusstsein des eigenen »Ich«aus der Betätigung des Willens zur Aufrichtung hervorgeht. In dieser Hinsicht verlangt also Anthroposophie eine klare Unterscheidung dessen, was im Menschen Sinnes-Tätigkeit ist, die sich auf den Knochenmenschen stützt, und was im Menschen Willens-Tätigkeit ist, die aus dem Muskelmenschen hervorgeht. Der Unterschied zwischen der »abstrakten« Sinneswahrnehmung der Tiere und der freieren Sinneswahrnehmung des Menschen besteht darin, dass der Menschdie Fähigkeit hat,»seinen Willen in die Sinnestätigkeit zu ergießen«(Steiner  a. a. O. im 3. Kapitel dieser Schrift). 

DiesesZitat ergänzen wir hier noch folgendermaßen:

»Beim Tiere werden die Sinne nicht vom Willen, sondern von einem tieferen Elemente durchflossen; daher auch der innigere Zusammenhang der Organisation der Sinne mit dem Gesamtorganismus« (Steiner 1919d, Vortr. v. 3.1.1919, S. 25). 

Das freiere Verhältnis der menschlichen Sinne gegenüber »einem tieferen Elemente«steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Evolution der Aufrichtung:

»Das Rückgrat steht senkrecht auf der Erdachse oder dem Erdradius. Beim Menschen ist es so, dass sein Kopf auf seinem eigenen Brustorganismus und Extremitätenorganismus steht. Beim Menschen ist der Brustorganismus so unter dem Hauptesorganismus, wie beim Tier die Erde unter dem Hauptesorganismus ist. Der Mensch steht mit dem Kopf auf seiner eigenen Erde [...] Beim Menschen ist unmittelbar der Wille, der Willensorganismus in den Kopforganismus eingeschaltet und das Ganze im Erdradius. Dadurch werden die Sinne gewissermaßen durchflossen vom Willen, und das ist das Charakteristische beim Menschen.«(Steiner1919d: 25)

Hier schließt sich die Frage an, wo die Grundlagen der moralischen Verantwortung des Menschen zu suchen sind, ob in erster Linie im Sinnes-Knochenmenschen oder im Willens-Muskelmenschen. Steinerschreibt hierzu:

»Wer auf dem Wege der übersinnlichen Erkenntnis zu einer Anschauung der menschlichen Wesenheit vorzudringen sucht, dem offenbart sich in immer stärkerer Art die gegensätzliche Natur der denkerischen und der willensartigen Seelenbetätigung [...] Das Denken, wie es beim Menschen im gewöhnlichen Leben wirkt, und wie es in der gebräuchlichen wissenschaftlichen Forschung angewendet wird, zeigt sich innig gebunden an die Vorgänge der leiblichen Organisation, während alles Willensartige seine Unabhängigkeit von dieser Organisation bei fortschreitender Durchdringung seiner Wesenheit durch übersinnliche Erkenntnis immer eindringlicher offenbart.«(Steiner1918c)

 

Wir halten hier schon gleich inne, weil wir überrascht sind. Hatten wir nicht bisher stets unter dem Eindruck gelebt, das Denken sei besonders frei gegenüber den Vorgängen unserer leiblichen Organisation? Und hatten wir nicht gerade das Wollen des Menschen als im Dienste der Leiblichkeit stehend empfunden? Unsere diesbezügliche Überraschung hat tiefenpsychologische Ursachen:

 

»Da nun im alltäglichen Verlauf des Seelenlebens die denkerische und die willensartige Betätigung nie getrennt sich der Selbstbeobachtung zeigen, ist es dem gewöhnlichen Bewusstsein unmöglich, die beiden Gegensätze in ihrer ureigensten Wesenheit kennen zu lernen. Diesem gewöhnlichen Bewusstsein liegt immer ein Denken vor, in dem auch der Wille wirkt, und ein Wollen, das von denkerischer Tätigkeit durchsetzt ist. Es kann daher nie entscheiden, welchen Anteil das Denken oder der Wille als solche an der Seelenverfassung haben [...] In ihrer Loslösung voneinander angeschaut, zeigen die beiden Elemente des Seelenlebens, dass dieses nicht ein ruhiges Hinbewegen ist, sondern das Erstreben einer Gleichgewichtslage zwischen der Bewegung, in die es die mehr an den Leib gebundene, mehr denkerische, und derjenigen, in die es die rein übersinnliche, mehr willensartige Betätigung drängen will [...] Diese Betrachtung zeigt nämlich, dass in der Mitte des menschlichen Lebens ein Mindestmaß an derjenigen Kraft vorhanden ist, welche nicht auf der Leibesgrundlage sich entwickelt, sondern die aus der übersinnlichen Welt auf dem Umwege des Willens dem Menschen zugeführt wird. In dieser Lebensepoche entwickelt die Seele eine starke unterbewusste, aber in das Bewusstsein triebartig heraufwirkende Neigung nach dem Eins-Werden mit der physischen Leibesorganisation.« (Steiner, a. a. O.)

In der Mitte des Lebens droht also aus Sicht der Geisteswissenschaft die Verbürgerlichung! Und die sogenannte »Midlife Crisis« ist nur die Folge davon:

»Die Seele strebt da gewissermaßen durch die Kräfte ihrer eigenen Wesenheit danach, sich von der geistigen Welt, in der sie vor ihrem Eintritt in das sinnenfällige Dasein lebte, abzuwenden. Nun wirkt diesem Streben eine andere Kraft entgegen, die ursprünglich nicht wesensverwandt mit den Kräften der Menschenseele ist, die aber im Weltenlaufe zu einem Einfluss auf diese Seele gelangt. Diese Kraft ist aber nicht nur zur Zeit der Lebensmitte im Menschen wirksam, sondern sein ganzes Leben hindurch. In der Lebensmitte macht sie sich nur dadurch besonders bemerkbar, dass sie die Abkehr von der geistigen Welt verhindert Sie macht sich aber auch im allgemeinen innerhalb der Seelenverfassung geltend in menschlichen Neigungen, die man als unberechtigt hochmütige bezeichnen kann. Sie ist wirksam, wenn der Mensch sich für höhergeartet hält, als dem Grade seiner Entwicklungsreife entspricht. Und sie ist auch wirksam, wenn der Mensch sich getrieben fühlt zu einem Tun, das zum Beispiel in moralischer Beziehung seiner Wesenheit als Mensch widerspricht [...] Nach dem Gebrauch, den das Wort in älteren Weltanschauungen gehabt hat, kann man die gekennzeichnete Kraft das in der Menschennatur wirksame Luziferische nennen [...] Im Gegensatz zu dieser Kraft steht eine andere, die ebenfalls, ohne ursprünglich in der Menschenseele zu liegen, im Weltenlaufe in ihr wirksam wird. Wäre das luziferische Element ohne solchen Gegensatz voll wirksam, so würde es beim Eintritte der Seele in das sinnenfällige Leben die Anziehungskraft des Menschenwesens für dies Leben überwinden; und der Mensch käme überhaupt nicht zu diesem Eintritte. In dem Zeitpunkte, in dem die Möglichkeit einer Abkehr der Menschenseele vom sinnenfälligen Leben eintritt, wird das Luziferische von einem anderen überwunden, das diese Seele in stärkerem Maße zum sinnenfälligen Dasein hinzieht, als es durch ihr eigenes Wesen geschieht. Aus den gleichen Gründen, wie für die entgegengesetzte Kraft der Name des ,Luziferischen’ gebraucht werden kann, sei dies das ,Ahrimanische’ genannt. Wie das Luziferische, so hat auch das Ahrimanische seine Schattenseite. In ihm liegt der Ursprung der Verirrungen des Denkens wie im Luziferischen derjenige der Verfehlungen des Willens. Denn auch das Ahrimanische ist nicht bloß im Lebensbeginne, sondern den ganzen Lebenslauf hindurch von Wirksamkeit auf die Menschenseele [...] Die Erkenntnis des Naturzusammenhanges ist durchaus vermittelt durch die leibliche Organisation. Die Geschehnisse dieses Zusammenhanges setzen sich durch die Tätigkeit der Sinne und den an die Sinne sich anschließenden Nervenorganismus in das Innere des Leibes fort. Das Verhalten des Gesamtleibes zu den in sein Inneres mündenden Naturvorgängen ist zu vergleichen mit einer Spiegelung [...] Der Leib erzeugt Bilder dieser Vorgänge; und die Seele verhält sich zu diesen Bildern wie derjenige, der vor einem Spiegel steht und die von ihm erzeugten Bilder beobachtet.«(Steiner, a. a. O.)

 

Metzinger hatte also doch nicht ganz Unrecht, als er die Sinnesqualitäten als »virtuelle« Realitätbezeichnete. Nur die Begründung dafür war Unsinn, weil er sie dem naiven Realismus seines ehemaligen Physiklehrers entnahm.

»Der übersinnlichen Anschauung aber offenbart sich, dass dieselben Kräfte, welche als ahrimanische die Seele an die Leibesorganisation heranziehen, auch geistig im Naturzusammenhange außer dem Menschen wirksam sind [...] Alle Naturerkenntnis ist vermittelt durch ahrimanische Tätigkeit.«(Steiner, a. a. O.)

 

Die moderne Hirnforschung und die daran anknüpfende »Neuroethik« kann den Willen nicht als eine eigenständige, vom Vorstellen diametral wesensverschiedene Seelenbetätigung erkennen. Statt dessen versteht sie unter dem »Wollen« des Menschen nur die gewöhnliche Denktätigkeit, wenn diese sich eine Vorstellung vom Handeln macht. Das Wollen oder Handeln ist für sie also nur ein Spezialfall des Denkens. So macht die Wirksamkeit der ahrimanischen Kräfte im Nerven-Knochenmenschen verständlich, warum die »Neuroethik« Sätze wie den Folgenden hervorbringt: »Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen« (Singer2004). Die moderne Hirnforschung hält das Denken fraglos für die am höchsten entwickelte und am meisten aus dem Naturzusammenhang emanzipierte Betätigung des Menschen. Desto mehr erscheint es ihr gerechtfertigt, auch die menschliche Willensfreiheit zu leugnen.

 

»Als handelndes Wesen erlebt der Mensch den freien Willen. Dieser ist eine Tatsache des Bewusstseins. Ihn hinwegleugnen kann nur derjenige, welcher sich für eine offenbare Tatsache seelisch blind macht. Zu begreifen aber ist er für den nicht, der alles nach dem Muster der naturwissenschaftlichen Vorstellungen begreifen will. Denn der freie Wille gehört dem Naturzusammenhange nicht an [...] Im Verhältnis zur sinnenfälligen Welt kann die Menschenseele dadurch den freien Willen entfalten und zu einem Bestandteil des eigenen Wesens machen, dass sie durch die luziferischen Kräfte auch während des Verweilens in dieser Welt mit einem Teil ihres Wesens in der geistigen Sphäre zurückgehalten wird. Dieselbe Kraft, welche in der Lebensmitte den Menschen vor dem Einswerden mit der Leibesorganisation rettet, ist auch die Bildnerin seines freien Willens.«(Steiner, a. a. O.)

 

Damit werden wir auf ein Ergebnis der modernen psychologischen Forschung zurückgeführt, das wir im 1. Kapitel als den »Morning Morality Effect« referiert hatten (Kouchaki & Smith 2014). Dort war er uns ein Hinweis auf die Wirksamkeit des »Geistselbst« im Willen des Menschen, die morgens zum Vorschein kommt, wenn der Mensch den nächtlichen Schlaf durchlaufen hat.

 

In Steiners vier Mysteriendramen (Steiner1910–1913) werden die luziferischen und ahrimanischen Kräfte künstlerisch so gestaltet, dass sie wie reale, sinnlich erfahrbare Personen auftreten. Im 4. Bild des ersten dieser vier Dramen (Die Pforte der Einweihung) spricht Luzifer zum Menschen:

 

»O Mensch, erkenne dich!

– O Mensch, empfinde mich!«

Und Ahriman lässt er ergänzend hinzufügen:

»O Mensch, erkenne mich! 

– O Mensch, empfinde dich!«

 

Wie lässt sich diese Szene im Zusammenhang unseres Themas deuten? – Beginnen wir mit der Aufforderung Ahrimans, denn er ist unserer Zeit bei weitem besser vertraut als Luzifer. Er sagt:

 

»O Mensch, erkenne mich!«– Diese Aufforderung bedeutet im guten Sinne: O Mensch, erkenne die gewaltige Weisheit der Natur! – Diese Aufforderung läutete vor etwa 500 Jahren den Beginn des »kopernikanischen Zeitalters« ein und hat seitdem den erkennenden Blick des Menschen nahezu ausschließlich nach außen, in die außermenschliche Natur gelenkt. Bis dahin gab es zwar schon alle Begriffe der Moderne: Es gab schon die Ansicht, die Erde sei rund, und selbst den Atomismus und Materialismus gab es schon in der Antike (Epikur und Lukrez). Aber wirklich ernst hat erst die Neuzeit damit gemacht (Greenblatt 2011). Dies hatte zur Folge, dass dem Menschen der Neuzeit jegliche Erkenntnis darüber abhanden gekommen ist, was es heißt, ein Mensch zu sein. 

 

Was bedeutet aber der zweite Teil der Aufforderung Ahrimans? – »O Mensch, empfinde dich!«– Dies ist nicht weniger als die Aufforderung: O Mensch, vereine dein Wollen mit deiner natürlichen Leiblichkeit! Und so haben wir die beiden Hauptmerkmale unserer Gegenwarts-Kultur: Erweiterung der Erkenntnis und Verwaltung der Natur, aber zugleich damit die Verbürgerlichung der Wissenschaften! Von dort aus können wir uns auch einem Verständnis der viel älteren Aufforderung Luzifers nähern: 

 

»O Mensch, erkenne dich!«– Dies ist die Verheißung, die Luzifer im Paradies des alten Testamentes an Eva und Adam heranträgt, indem er fragt: »Willst du nicht sein wie Gott?«. Durch Selbsterkenntnis findet der Mensch den Unterschied von Gut und Böse. »O Mensch, erkenne dich selbst!«ist aber auch die Inschrift des Apollon-Tempels zu Delphi und das Ziel aller christlichen Mystiker: »Siehe dich selbst recht an, was du seiest, forsche in deinem Busen, urteile über dich selbst, lass aber andere ungetadelt« schrieb der deutsche Mystiker Valentin Weigel (1615). Doch was Weigel im letzten Teil seiner Maxime anfügt: »lass aber andere ungetadelt«,vertritt eine Haltung, die Luzifer völlig fremd ist: Luzifer neigt zum idealistischen Fanatismus, und jede individuelle Freiheit ist ihm verhasst (Steiner1922a). So entsteht die große Verführung, die mit allem religiösen Streben des Menschen verbunden ist: Die Tyrannei der Ideale, die als Fanatismus auftritt! Und diese Tyrannei ist der Wille Luzifers, der den Menschen auffordert: »O Mensch, empfinde mich!«

 

Aus den übersinnlichen Anschauungen, die vom Ahrimanischen und Luziferischen zu gewinnen sind, wird klar, dass sich der Mensch zwar aus dem Nerven-und-Knochen-System ebenso wie aus dem Blut-und-Muskelsystem konstituiert, indem keines der beiden Systeme ohne das andere leben kann. Aber was jeder dieser beiden »Menschen im Menschen« will, gehört dem Menschen nicht ursprünglich an: Weder die Tyrannei der Ideale, noch die völlige Anpassung des Menschen an die Natur entspricht dem ursprünglichen Wesen des Menschen. Die Tyrannei der Ideale ist nur eine Karikatur des schöpferischen Geistes, und der Trieb zum Eins-Werden des menschlichen Geistes mit seiner Leiblichkeit führt nicht zum wahren »Ich«, sondern nur zum hochentwickelten Tier, zum Rädchen in der Maschinerie der Natur. Erst im gelebten Gleichgewicht der beiden Gegensätze, im rhythmischen Zusammenklang des Sinnes- mit dem Muskelmenschen, wird eine freie Höherentwicklung möglich sein.

 

Jeder der beiden Verführer des Menschen lässt je eine tief berechtigte und eine zutiefst böse Aufforderung an den Menschen ergehen: Ahriman sagt: »O Mensch, erkenne mich!« und meint damit die zutiefst berechtigte Mission der Naturerkenntnis. Aber zugleich damit vereinnahmt er auch den Willen des Menschen, indem er sagt: »O Mensch, empfinde dich!« und bereitet damit den eigentlichen Abgrund unseres Zeitalters: Die stagnierende Selbstzufriedenheit einer bloß naturalistischen Auffassung des Menschenwesens! Luzifer andererseits sagt: »O Mensch, erkenne dich!« und führt den Menschen damit in die zutiefst berechtigte Selbsterkenntnis, in die Unterscheidung von Gut und Böse, die Ahriman nicht gelten lassen will. Diese Unterscheidung hat schon Adam und Eva dazu bewegt, die tiefe Scham der Selbsterkenntnis zu empfinden. Aber der Wohltat Luzifers steht seine Aufforderung entgegen: »O Mensch, empfinde mich!«, die den Menschen dazu verführt, nur seine eigenen Ideale für gut zu halten. 

Der wollende, der moralische Mensch braucht also die Evolution seiner geistigen Anschauungen. Nur durch diese sieht er, wie sich der menschliche Wille bis in die Sinnestätigkeit hinein erstreckt und wie er nur frei ist, wenn er sich jenseits der Natur entwickelt. Doch welche geistigen Bedürfnisse hat der fühlende Mensch?

 

7. Ausblick

 

Betrachten wir mit dieser Frage, was andere Künstler des 20. Jahrhunderts zur Sinnlichkeit und zum Willen des Menschen gesagt haben. Wir nehmen dazu eine Bronze-Plastik Alberto Giacomettis, der neben Henry Moore der wohl anerkannteste Plastiker des 20. Jahrhunderts ist (Abb. 9). 

Abb. 9:Alberto Giacometti: L´homme qui marche I, Bronze (1961).

Klar ist, dass es einen solchen Menschen, den Giacometti hier darstellt, gegenständlich betrachtet, nicht geben kann. Es handelt sich also um eine nicht-gegenständliche Darstellung. Ebenso deutlich ist, dass es dem Künstler nicht darum gegangen sein kann, die Brüchigkeit der Bronze durch Glättung zu kaschieren, sondern eher im Gegenteil, diese noch absichtlich hervorzuheben. Unabhängig davon, wie Giacometti selbst über sein Werk dachte, der angeblich »nach der Natur« arbeiten wollte, behaupten wir, dass es sich um eine übersinnliche Darstellung des Menschen handelt, bei der die isolierte Darstellung des Nerven- und Knochenmenschen vollzogen wird. Also insofern, als es diesen Nerven- und Knochenmenschen als einen die Straße überquerenden Menschen nicht geben kann, ist Giacomettis Darstellung »unwahr«. »Wahr« ist sie aber dennoch, weil der Nerven- und Knochenmensch in jedem von uns unsichtbar und insofern »übersinnlich« lebt. 

Abb. 10:Henry Moore: Liegende (1929). Leeds Museums and Galleries, The Henry Moore Foundation.

Vergleicht man diese mit der Plastik »Reclining Woman« (Die Liegende), eine der berühmtesten Plastiken Henry Moores (Abb. 10), so ist unschwer erkennbar, dass Henry Moore sich hier offenbar ganz auf den Blut- und Muskelmenschen konzentriert. So konsequent macht Henry Moore seine Arbeit, dass dieser Blut- und Muskelmensch gar nicht anders kann, als zu liegen. Denn er hat ja keine Knochen. Und obzwar diese Liegende unendlich »fett« ist, scheint sie dessen ungeachtet wie schwerelos die Unterlage kaum zu benötigen. Auch dieser Blut- und Muskelmensch ist insofern »unwahr«, als es ihn in sinnlich sichtbarer Form nicht geben kann. Und wieder müssen wir zugeben, dass er als »übersinnliche« Wesenheit im Menschen lebt. Die Kunst der Gegenwart trägt also ganz offensichtlich zur Frage nach der »Sinnlichkeit« des menschlichen Leibes bei: Giacomettis Figuren werden dem Begriff der »Sinnesbetonung« ebenso gerecht, wie Henry Moores Figuren alle Kriterien der dazu polaren »Verstoffwechselung« erfüllen.

Abb. 11:Patientin E. L.: Gemälde in Grün und Rot während einer tiefen Depression. (Foto: H. Brettschneider)

Zufällig fand ich unter meinen Patienten eine Künstlerin, die den Knochen- und den Muskelmenschen gleichzeitig malte, und dies gleich zweimal: Einmal inmitten einer schweren Depression und einmal nach ihrer Genesung (Abb. 11, 12): In ihrem ersten Gemälde hat sie den Blut- und Muskelmenschen (rot) in separaten, kugeligen Gebilden inmitten eines grünen Meeres dargestellt, wobei die grüne Farbe, künstlerisch betrachtet, der Wesenheit des Nerven- und Knochenmenschen entspricht. Aber die Rollen sind vertauschst: Das Nerven- Muskelsystem hat sich ausgebreitet, so dass seine Antipathie-Kräfte das ganze Seelenleben dominieren. Der Muskel- und Blutmensch dagegen, der sich normalerweise mit seiner Unternehmungslust der ganzen Welt mitteilen, sie umarmen, erwandern und lieben möchte So jedenfalls lautete meine »Diagnose«. In dem zweiten Gemälde derselben Patientin, drei Jahre später, erweist sich die »Diagnose« als richtig, dass der Blut- und Muskelmensch im Rot und der Nerven- und Knochenmensch im Grün vertreten ist. 

 

Abb. 12:Gemälde derselben Patientin, 3 Jahre später, gesundet. (Foto: H. Brettschneider)

Doch nun ist die Genesung eingetreten nach den Angaben der Patientin, und dies lässt sich auch anhand ihres Gemäldes mühelos nachvollziehen: Der Blut- und Muskelmensch (rot) hat offenbar seine Einheit wiedergefunden und wird vom Nerven- und Knochenmenschen (grün) geformt und gehalten. Die im Nerven- und Knochenmenschen versammelten Formkräfte werden sowohl durch die Farbgebung als auch durch die Symbolik der Schlange als die Antipathiekräfte im Gegensatz zu den Liebeskräften des Blut- und Muskelmenschen symbolisiert. Nur durch die Formkräfte des Hasses und der Antipathie kann offenbar die Seele ihr Gleichgewicht zurückgewinnen, kann wieder urteilen, sich entscheiden, sich behaupten, und der Leib kann so wieder aufrecht stehen! So sehen wir an diesem Beispiel, dass der fühlende Mensch seelische und körperliche Harmonie nicht allein durch Liebe und Sympathie erreichen kann. Gesundheit ist nur im Gleichgewicht der Sympathie- und der Antipathiekräfte möglich. Wären nur die Sympathiekräfte wirksam, würde der Leib sich auflösen, das Herz im Zustand der Ausdehnung (Diastole) stillstehen und das Selbstbewusstsein in der Ohnmacht des Tiefschlafes versinken. Wären polar dazu nur die Antipathie-Kräfte wirksam, würde der Leib kristallisieren, das Herz im Zustand der Zusammenziehung (Systole) stillstehen und das Selbstbewusstsein in der Panik des Sterbens gelähmt.

 

 

 

Literatur:

 

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–(1923/24): Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin (GA 319), 3. Vortrag. Dornach

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Soesman, A.(1995): Die zwölf Sinne – Tore der Seele. Stuttgart

 

Der Autor

Heinrich Brettschneider, Internist. Studium der Medizin in Freiburg und Heidelberg. Seit 1978 Mitarbeiter des Carl Gustav Carus-Instituts in Niefern-Öschelbronn in der Forschung zur Entwicklung von Krebsheilmitteln aus der Mistel. Ärztlicher Berater des Carl Gustav Carus-Instituts in der Gesellschaft zur Förderung der Krebstherapie e.V. in Niefern-Öschelbronn. Langjährige Mitarbeit im Anthroposophisch-Pharmazeutischen Arbeitskreis in Stuttgart. 

Zwölfjährige klinische Tätigkeit unter anderem im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, in der Klinik Öschelbronn und der Filderklinik bei Stuttgart. 1980–1984 Facharzt-Weiterbildung zum Internisten an der Medizinischen Klinik Bad Cannstatt. 1985–2009 in eigener Praxis als Anthroposophischer Arzt und hausärztlicher Internist in Stuttgart,  2009 - 2016 in Landsberg/Lech, danach wieder in Stuttgart, und seit 2018 in München-Pasing als hausärztlicher Internist niedergelassen.

Nebenberuflich 2 Jahre Studium der Eurythmie in Stuttgart. Rege Kurs- und Vortragstätigkeit zur Anthroposophie und Anthroposophischen Medizin. Veröffentlichungen zur Medizin vor allem im (Tycho de Brahe-) Jahrbuch für Goetheanismus, an anderer Stelle auch zur Heileurythmie. Umfangreicher Beitrag zur Plazentologie der Säugetiere und des Menschen in der stark erweiterten Neuauflage von »Säugetiere und Mensch« von Wolfgang Schad im Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart (2012).

 

 

[1]Kurioserweise ist eines der berühmtesten Experimente der Physik, der Michelson-Morley Versuch von 1887, auf der sinnlichen Beobachtung eines rot-blauen Streifenmusters aufgebaut. Auf dem Ergebnis dieses Experimentes beruht die gesamte Relativitätstheorie Albert Einsteins. Deshalb hat es auch Eingang in den regulären Physikunterricht gefunden und wird heute in Deutschland als Abiturwissen vorausgesetzt (Reimbold 2013). Man sollte also dem Philosophen Metzinger empfehlen, lieber das Abitur zu wiederholen, als weiterhin seinem ehemaligen Physiklehrer zu vertrauen.

 

[2]Der philosophische Terminus »Solipsismus« ist gebildet aus lateinisch »Solus« (allein) und »ipse« (selbst). Unter Solipsismus wird zumeist ein radikaler erkenntnistheoretischer Idealismus verstanden, der nicht nur eine vom Bewusstsein unabhängige Außenwelt leugnet, sondern Bewusstsein darüber hinaus mit dem eigenen Bewusstsein gleichsetzt.

 

 

[3]

Mutationen sind unvermeidlich, weil der materielle Träger des Genoms ein Molekül ist und kein Molekül in der Natur auf Dauer beständig sein kann (Krauß2014).

 

 

 



Privatpraxis