ANTHROPOSOPHISCHE  (spirituelle)                               PSYCHOLOGIE

1. Die Dreigliederung des Seelenlebens

Dass das Seelenleben des Menschen dreigliedrig ist, wurde nicht erst von Rudolf  Steiner entdeckt, sondern schon von Johann Nikolaus Tetens (1736 - 1807), einemZeitgenossen Goethes,  im 18. Jahrhundert veröffentlich. Einer der ersten Philosophen, der diese Entdeckung anerkannte, war  Immanuel Kant, denn dieser bestätigte, dass die drei Seelen-Fähigkeiten des Vorstellen, Fühlens und Wollens nicht auseinander ableitbar, sondern als Urphänomene des Seelenlebens im goetheschen Sinne qualitativ selbständig sind. Die Vollendung dieser Entdeckung wurde aber erst von Rudolf Steiner 1917 anlässlich des Todes Franz Brentanos in dem Buch "Von Seelenrätseln" (Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr 21) endgültig ausgearbeitet: Die Dreigliederung des Seelenlebens des Menschen korrespondiert mit den drei Gliedern des physischen Leibes des Menschen insofern, als dem Vorstellen das Nerven-Sinnes-System, dem Fühlen das Rhythmische System und dem Wollen das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem des Menschen zugrundeliegt (siehe das Kapitel Dreigliederung des Organismus auf dieser Webseite).

 

Im Umgang mit der Dreigliederung des Seelenlebens sind drei Gesichtspunkte  besonders hervorzuheben:

 

1. Die Ontologischen Konsequenzen der Dreigliederung des Seelenlebens.

2. Das Verhältnis des Bewusstseins zur Dreigliederung des Seelenlebens.

3. Das Verhältnis des Denkens zur Dreigliederung des Seelenlebens.

 

Zu 1.

In der materialistisch orientierten Menschenkunde, die auch der akademischen Psychologie zugrunde liegt, wird der materielle, physische oder auch natürliche Leib des Menschen als der Hervorbringer und Ursprung des seelischen und geistigen Lebens des Menschen angesehen. Die anthroposophische Menschenkunde sieht das genau umgekehrt: Nur der Geist und die Seele des Menschen können die Hervorbringer und Ursachen der körperlichen Gestalt und Physiologie, sowie des seelischen Bewusstseins des Menschen sein, da die Natur selbst nur Kräfte und Gesetze enthält, die den menschlichen Leib zerstören. Deshalb kann man in der Natur nur Totes aus  dem Lebendigen, Lebendiges aber nur aus Lebendigem, Seelisches nur aus Seelischem und Geistiges nur aus Geistigem entstehen sehen. Insofern kann man ein Denken als ein spirituelles Denken bezeichnen, das schon das bloße Lebendig-Sein als ein tiefes Rätsel der Pflanzenwelt, das  seelische Leben des Menschen als eine Offenbarung der Seele und das geistige Leben des Menschen als eine Offenbarung des Geistes sieht. 

 

Zu 2.

Nur sein Vorstellen wird dem heutigen Menschen vollständig bewusst. Sein Fühlen erlebt aber der Mensch nur traumhaft-dumpf, und sein Wollen sieht er wie von außen, wenn er beispielsweise seine Gliedmaßen bewegt, wenn er schwitzt, uriniert oder Stuhlgang hat. Also letztlich erlebt der Mensch sein Wollen mehr oder weniger nur schlafend. 

 

Zu 3.

Das Denken lässt sich aufgrund dieser Betrachtung klar vom Vorstellen unterscheiden: Unser Vorstellen wird durch unsere Sinneswahrnehmungen bildhaft angeregt, so dass wir uns Bilder von der Außenwelt machen. Aber erst beim Beurteilen des Wahrgenommenen beziehen wir unsere Gefühle der Sympathie oder der Antipathie mit ein, so daß wir uns die ursprünglich noch ganz objekthaften Sinneswahrnehmungen der Außenwelt mittels unseres Gefühlslebens als innere Urteile aneignen. Solche gefühlshaft angeeigneten Wahrnehmungen bezeichnen wir dann als unsere Empfindungen. Wenn wir dann auch noch Schlüsse aus diesen Empfindungen ziehen, und sei dies auch nur der allereinfachste Schluss: Zum Beispiel: "Die Kirsche ist süß", so haben wir nicht nur das Fühlen, sondern auch den Willen in das Denken mit einbezogen.

 

Das ist also der Unterschied zwischen Vorstellen und Denken: Das Vorstellen ist eine der drei Grundfähigkeiten der Seele, deren zweite Fähigkeit im Fühlen und deren dritte Fähigkeit im Wollen liegt. Das Denken bezieht aber schon das Fühlen in  das Vorstellen durch seine Urteile (d.h. in seine Gefühlsbewertungen) mit ein, wenn ich mir zum Beispiel  sage: "Diese Leute mag ich, aber die anderen mag ich nicht". Auch den Willen wendet das Denken nicht nur auf das Handeln, sondern schon auf das Vorstellen an, indem es Schlüsse zieht. Wenn ich zum Beispiel denke: "Diese Kirschen hier sind süß, aber die anderen dort drüben nicht", so kommen diese Schlüsse nur zustande, wenn ich das Denken in meine Wahrnehmungen und Gefühle mit einbeziehe. Im Denken wenden wir also zumeist alle drei Seelenkräfte  gleichzeitig an. Die drei Seelenkräfte des Vorstellens, Fühlens und Wollens treten also viel häufiger gemeinsam in Aktion als einzeln. Sie sind demnach nicht nur nebeneinander, sondern vor allem auch ineinander tätig, weshalb die ganze Kunst der Selbsterkenntnis vor allem darin besteht, sich dieser Gleichzeitigkeit des Vorstellens, Urteilens und Schlüsse-Ziehens bewusst zu werden. Dabei besteht die größte Schwierigkeit darin, dass, wie oben schon behauptet, nur das Vorstellen völlig bewusst verläuft, hingegen das Fühlen nur traumhaft und das Wollen oft gar nicht bewusst wird. Das letztere ist besonders dann der Fall, wenn alles sehr schnell gehen muss, zum Beispiel dann, wenn wir etwa beim Autofahren den Fuß vom Gas wieder herunternehmen müssen, obwohl wir uns eigentlich schon entschieden hatten, zu überholen. Aber auch in zwischenmenschlichen Situationen kann es brenzlich werden, wenn wir uns die Reaktionsweise eines Gesprächsteilnehmers völlig anders ausgemalt hatten, als sie dann tatsächlich ausfiel. Die Schritte, den man dabei gehen muss, bestehen also darin, dass man  sich selbst wie von außen, wie ein Fremder betrachten muss, wenn man die Balance halten will zwischen dem ruhigem Schlüsse-Ziehen und dem hitzigen Aufblitzen der Gefühle.

 

Es handelt sich also bei der Anwendung der Dreigliederungs-Idee auf das Seelenleben keineswegs darum, die drei Seelentätigkeiten des Vorstellen, Fühlens und Wollens voneinander zu trennen, sondern nur darum, sie qualitativ unterscheiden zu lernen, da sie im täglichen Seelenleben des Menschen unwillkürlich immer gemeinsam auftreten, und dennoch auf so unterschiedliche Art beachtet werden müssen.

 

So weit erst einmal zur psychologischen Selbsterkenntnis. Erst die anthroposophische Meditation beginnt dann vorsichtig damit, die drei Seelentätigkeiten nicht nur rechtzeitig zu erkennen, sondern auch tatsächlich voneinander zu trennen. Letzteres darf daher nie im Alltag, sondern nur in der inneren Sammlung und nur getrennt von der Teilnahme am Alltag der anderen Menschen, also alleine geübt werden.