Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung

 

Rudolf Steiners zweite erkenntnistheoretische Publikation erschien 1886 und trägt den Titel: "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung " (Rudolf Steiner Gesamtausgabe GA 2). Darin legt Rudolf Steiner dar, warum innerhalb des von der Chemie und Physik beschriebenen, anorganisch - mechanisch gedachten Kosmos die nicht-physikalisch konstituierten Gebiete zu berücksichtigen sind, die er als die Reiche der "Organik" und der "Geisteswissenschaften" bezeichnet und prinzipiell von der physikalischen Welt der "Anorganik" unterscheidet.

 

Die unorganische Natur

 

In der Chemie und Physik ist die Möglichkeit des "Beweises" einer abstrakten Naturgesetzmäßigkeit mittels eines Experimentes und durch dessen beliebige Wiederholbarkeit gegeben, weil die Einzelkomponenten der zu beschreibenden Prozesse nur äußerlich zusammenwirken. Mit anderen Worten: Die äußeren Verhältnisse, unter denen bestimmte Komponenten eines Prozesses zusammenwirken, sind zugleich auch die Erzeuger der in diesem Zusammenspiel wirksamen, abstrakt mathematisch definierbaren Naturgesetzlichkeit, gewissermaßen wie in einer vom Menschen zusammengestellten "Maschine", weshalb auch der Kosmos in seiner Ganzheit analog zu einer Maschine als ein gigantischer Mechanismus gedacht wird.

 

Die organische Natur

 

Im Gegensatz zur Anorganik, deren abstrakte Naturgesetze den Kosmos homogen und grenzenlos durchdringen, ist die gesetzmäßige Einheitlichkeit bei Tieren und Pflanzen jedoch auf die Spezies, das heißt auf die evolutiv aktuelle Beschaffenheit des lebendigen "Organismus" begrenzt.

 

Im Bereich der Organik scheitert daher die Methodik des "Beweises" schon allein daran, dass ein lebender Organismus nicht beliebig erzeugbar ist: Noch nie ist es gelungen, auch nur eine einzige Zelle de novo, d.h. quasi aus dem Nichts, bzw. aus ihren anorganischen Bestandteilen herzustellen. Immer war es notwendig gewesen, bereits vorhandene Zellen oder mehrzellige Organismen zu verwenden, um mit diesen Versuche anzustellen. Allenfalls war es also bisher möglich, einzelne Zellen oder mehrzellige Organismen in ihrer Entwicklung zu beeinflussen, nicht jedoch, sie neu zu erzeugen. Es lassen sich also die Gesetze, die den Organismus konstituieren, nicht durch die Zusammenfügung von Einzelkomponenten eines Organismus beweisen, sondern nur die experimentellen Einflüsse auf die Entwicklung bereits vorhandener Organismen beschreiben. Mit anderen Worten: Wir können den Organismus nicht erzeugen, aber wir können die Entwicklung beschreiben, die er unter bestimmten Versuchsbedingungen gesetzmäßig durchläuft. Insofern ist nicht der "Beweis", sondern der "Vergleich" der Veränderungen eines vorgegebenen Organismus unter experimentell reproduzierbaren Entwicklungsbedingungen die angemessene Wissenschaftsmethode der Organik. Die Tatsache, dass es nicht möglich ist, lebende Organismen aus anorganischen Materialien künstlich zu reproduzieren wurde bereits im 16. Jahrhundert als ein Axiom der Organik formuliert: "Omnes cellulae ex cellulae" ( Alle Zellen stammen von Zellen ab). Allein, der Wunsch, eines Tages selbst einen Organismus herstellen zu können, mit anderen Worten: Allein die in Wahrheit nicht reale, sondern nur hypothetische Möglichkeit der künstlichen Reproduktion eines Organismus, ist bis heute das Motiv zahlreicher Naturwissenschaftler, die Erkenntnismethoden der Anorganik auch für die Organik einzusetzen. Zu beschreiben sind aber darüber hinaus in der Organik nicht fertige, unabänderliche Naturgesetzmäßigkeiten, wie dies in der Anorganik erfolgt, sondern die Organismen in ihrer Plastizität, mit anderen Worten: Die Organismen in ihrer gemeinsamen Evolution.

 

Was aufgrund vorausgegangener evolutiver Ereignisse (z.B. genetische Mutationen und selektive Prozesse) den aktuell erscheinenden Organismus ermöglicht, kann in Anknüpfung an bestimmte naturphilosophische Traditionen als der "Typus" bezeichnet werden. Die Anthroposophie Rudolf Steiners fasst aber den "Typus" nicht als ewig sich gleichbleibend, sondern als selbst einer Evolution unterworfen auf. Für die Organik ist daher aus anthroposophischer Sicht eine Revision unseres konventionellen, der Anorganik entliehenen Zeitbegriffes erforderlich: Während in der Anorganik die Ursache zeitlich stets vor der Wirkung erscheint, sind in der Organik Ursache und Wirkung schon immer gleichzeitig vorhanden gewesen: Der sich evolutiv wandelnde "Typus" als die "Ursache" und der aktuell erscheinende Organismus als dessen "Wirkung" bedingen einander nicht kausal im Hintereinander, sondern korrelativ in der Gegenwart des Lebendigen: Der uralte "Typus" wird durch den aktuell gewandelten Organismus fortlaufend auf eine neue Stufe des Seins gebracht, gewissermaßen stets aufs neue "verjüngt".

 

Der aktuell praktizierte Darwinismus bleibt also, was seinen konventionellen Zeitbegriff betrifft, vorläufig noch weit hinter den ihm aus der Anthroposophie vorausgesagten Entwicklungsmöglichkeiten zurück.

 

Die Geisteswissenschaften

 

Die Organik ist insofern die höchste Naturwissenschaft. Doch was in ihr erst als das Produkt des Nachdenkens, als ein Geistiges errungen wird, das ist in den Geisteswissenschaften als solches der Gegenstand der Forschung: Es sind die menschlichen Ideen, Taten, Schöpfungen, mit denen wir es hier zutun haben. Und während in der anorganischen Natur Gesetz und Aktion noch völlig auseinander fallen, insofern die Aktion als vom Gesetz beherrscht erscheint, werden in den Geisteswissenschaften beide zur Einheit: Das Geistige, das der Mensch im Geschichtsprozess hervorbringt, wird vom menschlichen Geist, sich selbst erkennend, erfasst. Und während sich in der Organik noch ein Allgemeines, die Art, der Organismus, auslebt, ist die Idee der Persönlichkeit der Inhalt der Geisteswissenschaften. Nicht die Tier- oder Pflanzenart, wie sie im Allgemeinen beschrieben werden könnte, sondern wie das Einzelwesen, der individuelle Mensch das allgemein Menschliche auszuleben vermag, das ist es, worauf es in den Geisteswissenschaften ankommt. Dabei ist nicht die zufällige Einzelpersönlichkeit, sondern der Einzelne schlechthin, die Individualität als entscheidendes Merkmal des Menschlichen für die Geisteswissenschaften maßgebend. In der Organik ist der einzelne Organismus durch die Art bedingt. Bei der Idee der menschlichen Individualität ist es das Allgemeine, das durch den Einzelnen verwirklicht wird.

 

Hier dreht sich auch die Kausalität der Anorganik in ihr Gegenteil um: Die Ursachen unseres Handelns liegen nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft, denn selbstverständlich ist das Menschsein aus der Sicht der Geisteswissenschaften stets Utopie: Wer könnte es wagen, heute schon zu sagen: "Ich bin nun ganz zum Menschen geworden"? Was aber ist unsere Zukunft ? - wir wissen es nicht, aber wir wissen , was die Zukunft nicht ist: Sie ist nicht determiniert, sie ist jetzt noch frei. Geisteswissenschaften sind daher unmittelbar Freiheitswissenschaften.

 

Erkenntnistheoretische Grundlagen der Anthroposophie

 

Wahrheit und Wissenschaft

 

Philosophie der Freiheit

 

Anthroposophie