Ist Anthroposophie eine Ideologie?

Der heutige Mensch ist argwöhnisch gegenüber allem Wissen, das über den Alltags-Horizont hinausgeht, in der Sorge, es könnte dogmatisch sein. Er sollte aber eigentlich noch argwöhnischer sein gegenüber allem Wissen, das innerhalb des Alltags-Horizontes bleibt, denn gerade die Einschränkung des Horizontes ist das Merkmal der Dogmen und Ideologien, die immer darauf bedacht sind zu sagen: "Nein das kann nicht sein!".

Im naturwissenschaftlichen Alltag bezeichnet man diese Einschränkungen des Horizontes nicht als "Dogmen", sondern als "Axiome", wie z.B. das Axiom von der "Erhaltung der Energie und der Substanz". Diese haben aber genau die gleiche Funktion wie Dogmen: Sie hindern den individuellen Menschen daran, selbst zu denken, anstatt nur "Meinungen" ungeprüft zu übernehmen und müssen deshalb ebenso wie alles Dogmatische überwunden werden.

 

Im ersten Vortrag von "Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben" (GA184) sagt hierzu Rudolf Steiner:

 

„Wer in irgendeinem Zeitpunkt in der Menschheitsentwicklung drinnensteht, der kommt zu gewissen Anschauungen. Gewisse Perspektiven dieser Anschauungen sieht er dann nicht; diese sehen die Späteren. . . Auch dasjenige Wissen, das man in der Gegenwart, und sei es auch ein noch so ausgeprägtes, über spirituelle Dinge erwerben kann, es darf nicht aufgefasst werden wie eine Summe von Dogmen. . . Und alles Hemmnis, alles Hindernis des geistigen Fortschrittes der Menschheit beruht schließlich darauf, dass die Menschen nicht zugeben wollen, dass sie gern Wahrheiten überliefert haben möchten, die nicht die Wahrheiten eines bestimmten Zeitalters sind, sondern, absolute, zeitlose Dogmen sind.“

 

Diese Sätze verstehe ich so, dass es eigentlich schon verstiegen ist, die Existenz von Wahrheit leugnen zu wollen, denn, wer Wahrheit leugnet, verabsolutiert auch nur den eigenen Unglauben als eine absolute Wahrheit, an die er glaubt. 

Aber die Meinung: Es könnte alles auch ganz anders sein, kann man erst dann vertreten, wenn man dafür eine Stütze findet. Mit anderen Worten: Wer selber keine Ideen hat, der soll einfach die Klappe halten, bis er welche hat, sonst kommt er in Verdacht, eine Schlaftablette zu sein! 

 

Das in dieser Hinsicht überhaupt tiefste Buch, das mir je begegnet ist, ist ein Vortragszyklus Rudolf Steiners, den er zwischen dem 1.Oktober 1913 und dem 10. Februar 1914 in den Städten Kristiania (Oslo), Berlin, Hamburg, Stuttgart, München und Köln unter dem Titel "Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium" gehalten hat.

 

Schon im 1.Vortrag in Oslo findet sich die folgende Passage:

. . . "Betrachten wir die Zeit des Kopernikus, die Zeit der aufkeimenden

Naturwissenschaft bis in das 19. Jahrhundert hinein. Es könnte so scheinen, als ob diese Naturwissenschaft, dasjenige was seit Kopernikus in das abendländische Geistesleben sich hineingearbeitet hat, dem Christentum entgegengearbeitet hätte. Äußere Tatsachen könnten das erhärten. Die katholische Kirche zum Beispiel hatte Kopernikus bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein auf dem sogenannten Index stehen. Sie hat Kopernikus als ihren Feind angesehen.

Aber das sind äußere Dinge. Das hinderte doch nicht, daß Kopernikus ein Domherr war. Und wenn die katholische Kirche Giordano Bruno auch verbrannt hat, so hinderte das nicht, daß er ein Dominikaner war. Sie beide sind eben aus dem Christentum heraus zu ihren Ideen gekommen. Sie haben aus dem christlichen Impulse heraus gehandelt. Derjenige versteht die Sache schlecht, der sich auf dem Boden der Kirche halten und glauben wollte, daß das nicht Früchte des Christentums gewesen wären. Es wird durch die angeführten Tatsachen nur bewiesen, daß die Kirche die Früchte des Christentums sehr schlecht verstanden hat; sie brauchte bis ins

19.  Jahrhundert hinein Zeit, um einzusehen, daß man die Ideen des

Kopernikus nicht durch den Index unterdrücken kann. Derjenige,

der die Dinge tiefer sieht, wird doch anerkennen müssen, daß alles,

was die Völker getan haben auch in den neueren Jahrhunderten, ein

Resultat, ein Ergebnis des Christentums ist, daß sich durch das Christentum der Blick der Menschen hinausgewendet hat von der Erde

in die Himmelsweiten, wie es durch Kopernikus und Giordano Bruno

geschehen ist. Das war nur innerhalb der christlichen Kultur und durch den christlichen Impuls möglich.

Und für denjenigen, der das geistige Leben nicht an der Oberfläche,

sondern in den Tiefen betrachtet, für den ergibt sich etwas, das, wenn

ich es jetzt ausspreche, recht paradox erscheinen wird, aber dennoch

richtig ist. Für eine solche tiefere Betrachtung erscheint es nämlich

unmöglich, daß ein Haeckel entstanden wäre so, wie er dasteht in aller

seiner Christus-Gegnerschaft, ohne daß er entstanden wäre aus dem

Christentum heraus. Ernst Haeckel ist ohne die Voraussetzung der

christlichen Kultur gar nicht möglich. Und die ganze neuere naturwissenschaftliche Entwickelung, wenn sie sich auch noch so sehr

bemüht, Gegnerschaft des Christentums zu entwickeln, alle diese

neuere Naturwissenschaft ist ein Kind des Christentums, eine direkte

Fortsetzung des christlichen Impulses. Die Menschheit wird, wenn erst die Kinderkrankheiten der neueren Naturwissenschaft ganz abgestreift

sind, schon einsehen, was das bedeutet, daß der Ausgangspunkt der neueren Naturwissenschaft, konsequent verfolgt, wirklich in die Geisteswissenschaft hineinführt, daß es einen ganz konsequenten Weg gibt von Haeckel in die Geisteswissenschaft hinein. Wenn man das begreifen wird, wird man auch einsehen, daß Haeckel ein durch und durch christlicher Kopf ist, wenn er auch selber nichts davon weiß. Die christlichen Impulse haben nicht nur hervorgebracht, was sich christlich nennt und nannte, sondern auch dasjenige, was wie eine Gegnerschaft gegen das Christentum sich geriert. Man muß die Dinge nicht nur auf ihre Begriffe hin untersuchen, sondern auf ihre Realität hin, dann kommt man schon zu dieser Erkenntnis. Aus der

darwinistischen Entwickelungslehre führt, wie Sie in dem kleinen

Schriftchen von mir über «Reinkarnation und Karma» sehen können, ein gerader Weg zu der Lehre der wiederholten Erdenleben.

Um aber auf dem richtigen Boden zu stehen in Bezug auf diese Dinge, muß man in einer gewissen Weise das Walten der christlichen Impulse unbefangen beobachten können. Derjenige, der den Darwinismus, den Haeckelismus versteht, und der selber ein wenig durchdrungen ist von dem, wovon Haeckel noch gar nichts weiß - Darwin aber wußte noch manches -, daß diese beiden Bewegungen nur als christliche Bewegungen möglich waren, wer das versteht, kommt ganz konsequent zu der Reinkarnationsidee. Und wer zu Hilfe ziehen kann eine gewisse hellseherische Kraft, der kommt auf diesem Wege ganz konsequent zu dem geistigen Ursprung des Menschengeschlechts.

Es ist zwar ein Umweg, aber, wenn Hellsichtigkeit hinzukommt, ein

richtiger Weg von dem Haeckelismus zu der geistigen Auffassung

des Erdenursprungs. Aber auch der Fall ist denkbar, daß man den

Darwinismus nimmt, wie er heute sich darbietet, ohne aber durchdrungen

zu sein von den Lebensprinzipien des Darwinismus selbst; mit anderen Worten: wenn man den Darwinismus aufnimmt als einen Impuls und nichts in sich fühlt von einem tieferen Verständnis des Christentums, das doch im Darwinismus liegt, dann kommt man zu etwas sehr Eigentümlichem. Dazu kann man kommen, daß man durch solche geistige Beschaffenheit der Seele gleich wenig vom Christentum und vom Darwinismus versteht. Man kann dann von dem guten Geiste des Christentums ebenso verlassen sein wie von dem guten Geiste des Darwinismus. Hat man aber den guten Geist des Darwinismus, dann mag man noch so materialistisch sein, dann kommt man immer weiter zurück in der Erdengeschichte bis auf den Punkt, wo

man erkennt, daß der Mensch niemals aus niederen Tierformen sich

herausentwickelt hat, daß er einen geistigen Ursprung haben muß.

Man kommt zurück auf den Punkt, wo man den Menschen als geistiges

Wesen gleichsam schwebend über der Erdenwelt schaut. Der konsequente

Darwinismus wird dazu führen. Ist man aber von seinem guten Geiste verlassen, dann kann man glauben, wenn man zurückgeht und ein Anhänger der Reinkarnationsidee ist, man habe einmal selber als Affe gelebt auf irgendeiner Inkarnation der Erde selbst. Wenn man das glauben kann, dann muß man sowohl von dem guten Geiste des Darwinismus als auch des Christentums verlassen sein, dann muß man von beiden nichts verstehen. Denn niemals könnte einem konsequenten Darwinismus passieren, das zu glauben. Das heißt, man muß in ganz äußerlicher Weise die Reinkarnationsidee übertragen auf diese materialistische Kultur. Denn man kann den modernen Darwinismus gewiß seiner Christlichkeit entkleiden. Tut man das nicht, so wird man finden, daß bis in unsere Zeit hinein die darwinistischen Impulse aus dem Christus-Impuls geboren worden sind, daß die christlichen Impulse auch da wirken, wo man sie verleugnet.

So haben wir nicht nur die Erscheinung, daß das Christentum sich in den ersten Jahrhunderten abgesehen von der Gelehrsamkeit

und dem Wissen der Anhänger und Bekenner ausbreitete, daß es

sich ausbreitete im Mittelalter so, daß höchst wenig dazu beitragen

können die gelehrten Kirchenväter und die Scholastiker, sondern wir

haben in unserer Zeit die noch paradoxere Erscheinung, daß das

Christentum wie in seinem Gegenbilde im Materialismus unserer heutigen

Naturwissenschaft erscheint, und alle Größe, alle ihre Tatkraft doch aus den christlichen Impulsen hat. Die christlichen Impulse, die in ihr liegen, werden diese Wissenschaft von selbst über den Materialismus

hinausführen. . ."

 

Was also aus dem ersten Zitat aus "Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben" (GA184) schon ahnbar ist, dass nämlich der Wahrheitsbegriff historisch relativiert werden muss, das ist in dieser jetzt zitierten Passage aus dem "Fünften Evangelium" Gewissheit. Diese Gewissheit wird dann im weiteren Verlauf des Zyklus der GA 148 zur inneren Erschütterung. 

 

Ich zitiere aus dem 4. Vortrag (Oslo 1913), weil unsere ganze bisherige Erziehung im 20. und 21. Jahrhundert nach Christi Geburt uns alle unfähig macht, damit so ohne weiteres fertig zu werden:

 

"Ungefähr von dem zwölften Jahre an des Jesus von Nazareth möchte ich heute einiges erzählen". . . "Es war aber nun - so läßt es sich erkennen aus dem Inhalt des Fünften Evangeliums - ein ganz sonderbares, merkwürdiges Heranwachsen in den nächsten Jahren. Zuerst hatte ja die nächste Umgebung des jungen Jesus von Nazareth eine große, gewaltige Meinung bekommen von ihm, eben durch jenes Ereignis im Tempel, durch

jene gewaltigen Antworten, die er den Schriftgelehrten gegeben hatte.

Die nächste Umgebung sah sozusagen den kommenden Schriftgelehrten

selber in ihm, sie sah heranwachsen in ihm denjenigen, der eine ganz hohe, besondere Stufe der Schriftgelehrsamkeit erreichen werde. Mit großen, ungeheueren Hoffnungen trug sich die Umgebung des Jesus von Nazareth. Man fing sozusagen an, jedes Wort von ihm aufzufangen. Dabei aber wurde er selber, trotzdem man förmlich danach jagte, jedes Wort aufzufangen, nach und nach immer schweigsamer und schweigsamer. Er wurde so schweigsam, daß es seiner Umgebung im höchsten Grade oftmals unsympathisch war. Er aber kämpfte in seinem Inneren, kämpfte einen gewaltigen Kampf, einen Kampf, der ungefähr in dieser seiner Innerlichkeit hineinfiel zwischen das zwölfte und achtzehnte Jahr seines Lebens. Es war wirklich etwas in seiner Seele wie ein Aufgehen innerlich liegender Weisheitsschätze, etwas, wie wenn aufgeleuchtet hätte in der Form der jüdischen Gelehrsamkeit die Sonne des einstigen Zarathustra-Weisheitslichtes.". . ." Während er so schweigsam zuhörte, machte doch einen gewissen Eindruck, was er von den im Hause sich versammelnden Schriftgelehrten hörte, aber einen Eindruck, der ihm oftmals in der Seele Bitterkeit verursachte, weil er das Gefühl hatte - wohlgemerkt schon in jenen jungen Jahren -, daß vieles Unsichere, leicht zum Irrtum Neigende, stecken müsse in dem, was da jene Schriftgelehrten sprachen von den alten Traditionen, von den alten Schriften,

die in dem Alten Testamente vereinigt sind. Ganz besonders aber bedrückte es in einer gewissen Weise seine Seele, wenn er hörte, daß in alten Zeiten der Geist über die Propheten gekommen sei, daß Gott selber inspirierend gesprochen hätte zu den alten Propheten und daß jetzt die Inspiration von dem nachgeborenen Geschlechte gewichen sei. Besonders aber bei einem horchte er immer tief auf, weil er fühlte, daß dies, wovon die Rede war, bei ihm selber kommen würde. Es sagten jene Schriftgelehrten oftmals: Ja, jener hohe Geist, jener gewaltige Geist, der zum Beispiel über den Elias gekommen ist, der spricht nicht mehr; aber wer doch noch immer spricht - was auch noch mancher von den Schriftgelehrten zu vernehmen glaubte als Inspiration aus den geistigen Höhen -, was doch noch immer spricht, das ist eine schwächere Stimme zwar, aber eine Stimme, die manche doch noch zu vernehmen glauben als etwas, was der Geist Jahves selber gibt.

- Die "Bath-Kol" nannte man jene eigentümliche, inspirierende Stimme, zwar eine schwächere Stimme der Eingebung, eine Stimme minderer Art als der Geist, der die alten Propheten inspirierte, aber doch noch etwas Ähnliches stellte diese Stimme dar.  So sprach mancher in der Umgebung des Jesus von der Bath-Kol.". . ."Aber gerade dieser Umstand der Inspiration durch die Bath-Kol wirkte auf Jesus von Nazareth, als er sechzehn, siebzehn Jahre alt war und er oftmals diese offenbarende Stimme der Bath-Kol fühlte, so, daß er in bittere, schwere innere Seelenkämpfe dadurch geführt wurde. Denn ihm offenbarte die Bath-Kol - und das glaubte er alles sicher zu vernehmen -, daß nicht mehr fern wäre der Zeitpunkt, daß im Fortgang der alten Strömung des Alten Testamentes dieser Geist nicht mehr sprechen würde zu den alten jüdischen Lehrern, wie er früher zu ihnen gesprochen hatte. Und eines Tages, und das war furchtbar für die Seele des Jesus, glaubte er, daß die Bath-Kol ihm offenbarte: Ich reiche jetzt nicht mehr hinauf zu den Höhen, wo mir wirklich der Geist offenbaren kann die Wahrheit über den Fortgang des jüdischen Volkes.". . ."So glaubte Jesus von Nazareth in seinem sechzehnten, siebzehnten Jahre, daß ihm aller Boden unter den Fü.en entzogen wäre, und er hatte manche Tage, wo er sich sagen mußte: Alle Seelenkräfte, mit denen ich glaubte begnadet zu sein, sie bringen mich nur dazu, zu begreifen, wie in der Substanz der Evolution des Judentums kein Vermögen mehr besteht, herauf zu reichen zu den Offenbarungen des Gottesgeistes. . ."

 

Das soweit aus dem Vortragsyklus "Das Fünfte Evangelium" Zitierte macht deutlich, dass es offenbar eine Eigenart besonders des Christentums zu sein scheint, eine Entwicklungsdynamik zu entfalten, die den übrigen Weltreligionen fremd ist. Sie führt dazu, dass das kulturelle Entwicklungstempo, das die Welt jetzt unter der Führung Europas eingeschlagen hat, aus der Sicht der von Rudolf Steiner begründeten Anthroposophie als eine Frucht des Christentums gesehen wird, ebenso nämlich, wie auch die Anthroposophie selbst sich als eine Frucht des Christentums versteht.