Waldorf-Pädagogik

 

 

MANTRAM

 

Es war in alten Zeiten,

Da lebte in der Eingeweihten Seelen

Kraftvoll der Gedanke, dass krank

Von Natur ein jeglicher Mensch sei.

Und Erziehen ward angesehen

Gleich dem Heilprozess,

Der dem Kinde mit dem Reifen

Die Gesundheit zugleich erbrachte

Für des Lebens vollendetes Menschsein.

 

Rudolf Steiner

 

Die wichtigsten Konsequenzen, die sich aus der Anthroposophie für die Pädagogik ergeben, sind die Folgenden:

 

1. Das Kind unterscheidet sich prinzipiell vom Erwachsenen dadurch, dass sein Leib sich noch entwickelt. Eine kindgerechte Pädagogik muss dies berücksichtigen.

 

2. Es gibt keine einheitliche Methode des Unterrichtens für das Kind, da es im Verlauf seiner Entwicklung sehr unterschiedliche seelische Bedürfnisse hat. Die Unterrichts-Methode muss also dem jeweiligen Stadium der Kindes-Entwicklung entsprechen.

 

3. Die Zeit von der Geburt bis zur Schulreife muss in die Pädagogik einbezogen werden, da das Kind sonst mit ungünstigen Voraussetzungen in die Schule eintritt.

 

Zu 1: Die kindliche Entwicklung lässt sich grob in drei Phasen gliedern:

 

Das 1. Jahrsiebt: Von der Geburt bis zum Zahnwechsel.

In dieser Zeit entwickelt das Kind sein Kopfsystem so weit, dass es ungefähr im 7. Lebensjahr eingeschult werden kann. Ein körperliches Symptom der Schulreife ist deshalb der Beginn des Zahnwechsels. Daran manifestiert sich die körperliche Vollendung des Kopfsystems. Und genau in dem Sinne, wie auf die Augen im Mutterleib das äußere Sonnenlicht noch nicht wirken soll, so soll auch nicht schon vor dem Zahnwechsel die äußere Erziehung auf die Ausbildung des Gedächtnisses wirken. Das Gedächtnis des kleinen Kindes entwickelt sich frei durch sich selbst, wenn man ihm, z.B., die qualitativ angemessene Nahrung gibt, wie sich auch die Sinnesorgane vor der Geburt frei durch ihre eigene Tätigkeit entwickeln. Und was das kleine Kind im 1. Jahrsiebt am Vorbild seiner Erzieher wahrnimmt, wird auf dieselbe implizite Art zur Grundlage seiner späteren moralischen Entwicklung.

 

Das 2. Jahrsiebt: Vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife.

 

Im Verlauf des 2.Jahrsiebts entwickelt das Kind sein Zirkulations- und Atmungssystem, und damit die Grundlage seines Gefühlslebens, so dass es ungefähr um das 14. Lebensjahr die Geschlechtsreife erlangt. Das Kind wird "erdenreif", ist aber noch nicht voll verantwortlich, also noch nicht "gemeinschaftsreif".

 

Das 3. Jahrsiebt: Von der Geschlechtsreife bis zur geistigen Mündigkeit.

 

In dieser Zeit wird das Denken frei, und damit wird auch das Wahrheits-Gefühl errungen. Mit diesem Schritt in die Eigenverantwortung korreliert körperlich der Höhepunkt und Abschluss des Gliedmaßenwachstums, so dass ungefähr um das 21. Lebensjahr die körperliche Endgröße erreicht wird. Der Jugendliche wird "erwachsen".

 

Zur Pädagogik für das 1. Jahrsiebt des Kindes.

 

Im 1. Jahrsiebt lernt das Kind auf elementarer Stufe das Gehen, Sprechen und Denken, in dieser Reihenfolge, als die drei hauptsächlichen Felder für die Betätigung des Willens.

 

Aus der Raumorientierung und Gliedmaßenbetätigung des Stehen- und Gehenlernens entwickeln sich die Gestik und Mimik. Und erst daraus folgt das Sprechen. Und erst aus dem Sprechen geht das Denken hervor. So setzt alles, was sich im ersten Jahrsiebt an Fähigkeiten bildet, letztlich die Betätigung der Gliedmaßen voraus.


 

Im ersten Jahrsiebt ist hierzu eine elementare Tatsache lebensentscheidend: Das ganze Kind ist Sinnesorgan. - Das heißt: Das Kind entwickelt seine Fähigkeiten nahezu ausschließlich durch die Nachahmung von Vorbildern. Und alles, was die Sinne dabei wahrnehmen, bleibt nicht beim seelischen Eindruck stehen, sondern pflanzt seine Wirkung in das Innere des Organismus, d.h. bis in die physische Gestaltung des Gehirnes, die Atmung, die Blutzirkulation, ja, bis in den Stoffwechsel fort.

 

Im Wesentlichen ergeben sich daraus drei Konsequenzen:

 

1. Nicht, was der Erzieher sagt, sondern was er ist, mithin also nur, was er tut und fühlt, ist im 1. Jahrsiebt erzieherisch wirksam.

2. Was der Erzieher spricht, ist seinem intellektuellen Inhalt nach in der frühen Kindheit erzieherisch unwirksam. Umso stärker wirkt erzieherisch, was der Erzieher beim Sprechen tut und empfindet.



3. Alle pädagogischen Einflüsse aus der Umgebung des Kindes werden nicht nur zu moralischen, sondern auch zu körperlichen Wirkungen im Kind.

 

Konkret heißt dies zum Beispiel, dass es nicht nötig, ja sogar schädlich ist, besondere Spiele oder Spielzeuge für kleine Kinder zu entwickeln. Wenn man dem Kind ein zusammengewickeltes Tuch als „Puppe“ zum Spielen gibt, so muss es sich aus der Phantasie ergänzen, was dieses "Ding" im Bewusstsein als "Mensch" erscheinen lässt. Diese Arbeit der Phantasie wirkt plastizierend auf die Formen des Gehirns. Erhält das Kind sogenannte „schöne“ Puppen, die beim Hinlegen die Augen schließen, usw., so hat sein Gehirn nichts mehr zu tun und verkümmert. Und alle Spielzeuge, die wie die heute üblichen Baukästen nur aus toten mathematischen Formen bestehen, wirken verödend und ertötend auf die Kreativität des Kindes. Auch ein besonderer Ton im Umgang mit kleinen Kindern ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich, weil er töricht (also entwicklungshinderlich) und unwahrhaftig ist. Was die Erwachsenen in der Umgebung tun, ist genau das, was das kleine Kind aus der Nachahmung heraus auch tun möchte. Dabei geht es dem kleinen Kind noch nicht um die Ziele dessen, was Erwachsene tun, sondern nur um den Vollzug der Tätigkeiten, insofern dabei die Gliedmaßen, und natürlich auch die Mimik und die Stimme aktiv sind. Das heißt aber zugleich, dass die Gefühle, mit denen die Erzieher ihre Tätigkeiten begleiten, unmittelbar im Kind wirksam sind. Deshalb wirken auch die Gefühle, die das gesprochene Wort begleiten, unmittelbar auf das Kind. Konkret heißt dies zum Beispiel, dass zynische, unwahre, resignierte oder gar aggressive Gefühle unmittelbar dadurch auf das kleine Kind wirken, dass es unbewusst diese unechten, resignierten oder aggressiven Gefühle innerlich nachahmt. Dabei wird nicht nur das Gefühlsleben des kleinen Kindes für das ganze spätere Leben geprägt, indem es sich die emotionalen Reaktionen seiner Erzieher unbewusst wie ein Muster zu eigen macht. Auch die Funktionen der inneren Organe des Kindes werden durch die Gefühle des Erziehers nachhaltig beeinflusst, so dass ein heiterer, ehrlicher und liebevoller Erzieher seine Zöglinge auch körperlich gesundet. Aggressiv gestimmte, gleichgültige oder resignierte oder heuchlerische Erzieher veranlagen in ihren Zöglingen nicht nur spätere moralische Deformierungen, sondern auch bleibende Organschäden. Zum Beispiel verwandelt sich ungezügelte Aggressivität (Cholerik) des Erziehers in eine erst Jahrzehnte danach manifest werdende Neigung des Kindes zu Rheuma, Arthrose, Bluthochdruck, Arterienverkalkung, Diabetes und Altersschwachsinn. Die triste (melancholische) Mimik eines depressiven Erziehers veranlasst das Kind einerseits zu einer ganz ähnlichen späteren resignativen Lebenshaltung. Andererseits wirkt die Melancholie des Erziehers auch auf die Atmungs- und Herztätigkeit, woraus Jahrzehnte danach schwere Herz- und Lungenerkrankungen werden können. Ungezügelte Sprunghaftigkeit (Sanguinik) des Erziehers wird zu Lebensunlust in der Seele des kleinen Kindes und äußert sich später körperlich in mangelnder Vitalität. Die Trägheit (Phlegma) des Erziehers wirkt so auf das Kind, dass sie dieses nervös macht. Und ähnlich, wie aus der früher weit verbreiteten religiösen Heuchelei des Erziehers die Neigungen zum Lügen und Betrügen im Kind, aber auch die Schwächen und Fehlfunktionen seiner Verdauungsorgane, oft erst um Jahrzehnte später im Lebensverlauf entstehen, so wirkt die heute ebenso weit verbreitete Gleichgültigkeit (Coolness) und Oberflächlichkeit (Smartness) in der gleichen Weise wie Phlegma auf das Kind, unabhängig vom Temperament des Erziehers. Daher ist Nervosität die heute am weitesten bei Erwachsenen verbreitete Störung. Dies alles sind nur Beispiele. Die Wirklichkeit ist viefältiger, und oft auch grausamer. So ist das oben Gesagte, dass die pädagogischen Einflüsse des ersten Lebensjahrsiebtes für das Kind auch in Bezug auf die körperlichen Wirkungen lebensentscheidend sind, wahrhaftig nicht übertrieben, sondern sehr realistischx!

 

Es lässt sich also die Waldorf-Pädagogik des 1. Jahrsiebtes folgendermaßen zusammenfassen: Das kleine Kind ist noch ganz Sinnesorgan, d.h., unbewusst noch ganz an seine Umgebung hingegeben. Das heißt aber nicht, dass es dadurch weniger wahrnimmt als später, oder dadurch, dass es unbewusst wahrnimmt und alles Wahrgenommene wieder vergisst, geschützter ist. Das Gegenteil ist sogar der Fall: Was das kleine Kind wahrnimmt, nimmt es noch unabhängig von der Aufmerksamkeit wahr. Dadurch nimmt es nicht mit dem Intellekt, sondern mit der ganzen Psyche, und mit dem ganzen Körper wahr. So wirkt alles, was in der Umgebung des Kindes geschieht, auf die Psyche und den Körper, und dies ganz ungefiltert und ohne Erinnerung, d.h., ohne die Möglichkeit der nachträglichen Reflexion und Relativierung durch den Intellekt.

 

Dies ist der wahre Kern der Psychoanalyse Sigmund Freuds, die ja auch behauptet, dass die frühkindlichen Erlebnisse entscheidende Prägungen für das ganze spätere Leben hinterlassen, und bezeichnet deren kränkende Folgen als "Neurosen". Doch die Freudsche Psychoanalyse irrt darin, dass die frühkindlichen Prägungen nur "Neurosen", d.h. nur nervöse Störungen sind, und irrt auch darin, dass diese Kränkungen durch irgendeine Methode nachträglich erinnerbar und damit heilbar sind. Frühkindliche Prägungen sind weit mehr als nur "Neurosen", d.h. nur nervöse Störungen, sondern reichen bis in die Rhythmen der Organfunktionen, und sogar bis in den Stoffwechsel hinein, d.h. bis in die Substanzbildung der Organe. Als solche sind daher frühkindliche Prägungen mit keiner Methode erinnerbar und deshalb mit der Psychoanalyse auch nicht heilbar. Wenn also die Wirksamkeit der Psychoanalyse mit den heutigen "bildgebenden Verfahren" der Neurobiologie als erwiesen dargestellt wird, so liegt darin der Irrtum, dass die frühkindlichen Prägungen nur als "Neurosen", d.h. nur als nervöse Störungen aufgefasst werden. Nicht durch einmalige, "blitzartige" Rückschauen, sondern nur durch regelmäßige rhythmisch sich wiederholende Willensübungen, wie sie z.B. in der Heileurythmie gegeben sind, lassen sich daher die krankhaften Folgen frühkindlicher Prägungen heilen.

 

Entscheidend für die Qualität der Erziehung ist daher im frühkindlichen Lebensalter nicht, welche Maßnahmen man sich für die Erziehung ausdenkt, und auch nicht, welche Regeln man als Erzieher befolgt, sondern nur, welche moralischen Qualitäten man als Erzieher mitbringt. Diese wirken über die unbewusste Nachahmungstätigkeit des kleinen Kindes nicht nur auf dessen spätere moralische, sondern auch auf seine körperliche Entwicklung grundlegend und nachhaltig.

 

Das 1. Jahrsiebt ist keine Einheit, sondern zeigt eine Gliederung in drei Perioden. Diese lässt sich am Erwerb der drei Grundfähigkeiten des Willens zum Gehen, Sprechen, und Denken ablesen. Dabei macht sich eine deutliche Bewusstseins-Schwelle bemerkbar, die etwa in das dritte bis vierte Lebensjahr fällt und das erste Jahrsiebt halbiert. Diese Bewusstseins-Schwelle ist durch den ersten, noch ganz schlafwandlerischen Erwerb der „Ich“-Erfahrung gegeben.

 

Diese erstmalige, für den Menschen aber grundlegenden Erfahrung, sich seiner selbst gewahr zu werden, ist zwar nur ein vorläufiger, in mancher Hinsicht noch ganz unvollkommener Einschlag. Aber dieser ist Anlass genug für die Waldorf-Pädagogik, erst von da ab, zumeist also erst mit dem Ende des vierten Lebensjahres, die erstmalige, und nur halbtägige Aufnahme in einen Kindergarten zu empfehlen. 
Die Empfehlung eines so relativ späten Zeitpunktes für die dann auch nur halbtägige Entlastung der Mutter (oder des Vaters) mag beim oberflächliche Vergleich mit heute weit verbreiteten Ansichten und Lebenstatsachen rückständig erscheinen. Sie ist aber insofern wissenschaftlich begründet, als man in aller Folgezeit nicht wieder gutmachen kann, was man in der Zeit bis zum Zahnwechsel versäumt hat. Wie der Mutterleib vor der Geburt die richtige Umgebung für den physischen Menschenleib herstellt, so hat der Erzieher nach der Geburt bis zum Zahnwechsel für die richtige psychische Umgebung des Kindes zu sorgen. Denn nur die richtige psychische Umgebung wirkt auf das kleine Kind so, dass sich seine physischen Organe in die richtigen Formen prägen.

 

Das 2. Jahrsiebt.

 

Im ersten Jahrsiebt werden die elementaren Fähigkeiten des Gehens, Sprechens und Denkens als die Grundlage für das Willensvermögen des ganzen späteren Lebens veranlagt. Im zweiten Jahrsiebt wird das Sprachvermögen noch intimer ausgebildet und wird damit zur Grundlage des Gefühlslebens der gesamten folgenden Lebenszeit. Körperlich beginnt das zweite Jahrsiebt damit, dass die plastische Ausgestaltung der physischen Gestalt zu einem ersten Abschluss im Bereich des Kopfes gelangt. Dies manifestiert sich im Zahnwechsel. Die weitere körperliche Entwicklung besteht bis zur Geschlechtsreife hin vor allem in der Ausgestaltung der funktionellen Systeme, deren hauptsächlichstes Merkmal der Rhythmus ist. Dies wird besonders anschaulich im weiblichen Monatsrhythmus .

 

Während das erste Jahrsiebt im Ganzen dadurch gekennzeichnet ist, dass das kleine Kind noch ganz Sinnesorgan ist und somit unbewusst im Gefühls- und Willensleben seiner Erzieher aufgeht, entwickelt sich im zweiten Jahrsiebt die seelische Innerlichkeit des Kindes als Wohlgefallen oder auch Missfallen am Unterricht. Dies muss als solches in einer durchgehend aesthetisch anregenden Unterrichtsgestaltung berücksichtigt werden. Mit anderen Worten: Nicht darauf kommt es im zweiten Jahrsiebt an, dass man möglichst gute Leistungen bei seinen Zöglingen erzielt, sondern dass man ihr aesthetisches Interesse für das zu Leistende erweckt.

 

Pädagogische Konsequenzen:

Der rhythmisch-künstlerischen Konstitution des zweiten Jahrsiebtes trägt die Waldorf-Pädagogik dadurch Rechnung, dass neben Schreiben, Lesen, Zählen, Rechnen und Turnen vom ersten Schultag an zwei Fremdsprachen, Singen, musikalischer Instrumentalunterricht und Eurythmie zum Lehrplan gehören. Und da das Kind nun das Bedürfnis hat, die aus der Leibesgestaltung frei werdenden Seelenkräfte im künstlerischen Schaffen auszuleben, gehören auch Malen und Plastizieren von Anfang an zum Lehrplan der Waldorf-Schule.

 

Auch das zweite Jahrsiebt ist keine Einheit, sondern zeigt, wie schon das erste Jahrsiebt, eine Gliederung in drei sehr verschiedene Perioden.

 

7. – 9. Lebensjahr

Eine erste Periode, die etwa vom siebten bis neunten Lebensjahr dauert, ist dadurch eine besondere, dass das Kind schon innerlich Wohlgefallen oder auch Missfallen am Unterricht entwickelt. Dabei kann es aber die eigene Wesenheit noch nicht von seiner Umgebung  unterscheiden.

 

9. – 10. Lebensjahr

Das 9. Bis 10. Lebensjahr ist eine sehr kritische Lebensphase: Das Kind lernt, sich von seiner Umgebung zu unterscheiden, sich als ein „Ich“ gegenüber dem Äußeren, dem nicht zum „Ich“ Gehörigen zu erleben. In der Waldorf-Pädagogik nennt man diesen Durchgang den „Rubicon“, weil Cäsar am Ende des gallischen Krieges den Rubikon-Fluss nicht in Begleitung seines Heeres in Richtung auf Rom überschreiten durfte, ohne das gesamte Machtgefüge des römischen Reiches zu erschüttern. Cäsar hat dessen ungeachtet den Rubicon in Begleitung seines Heeres überschritten. Wir würden heute sagen: Der Rubikon war für Cäsar und das damalige römische Reich der „Punkt ohne Wiederkehr“. Und ebenso ist das 9. Bis 10. Lebensjahr ein „Punkt ohne Wiederkehr“ für das Kind, das von nun ab nie mehr Kind im ursprünglichen Sinne, sondern nun zum Halbwüchsige, zum Jugendlichen wird, wenn auch noch nicht voll im Sinne der nur wenige Jahre später eintretenden Geschlechtsreife.

 

In der Lebenspraxis kommt der „Rubicon“ dem Kind nur sehr dunkel oder gar nicht zu Bewusstsein, so dass der Lehrer sehr aufmerksam sein muss, wenn das Kind in diesem Alter mit irgend einer Schwierigkeit an ihn herantritt. Zumeist drückt dabei das Kind nicht sein eigentliches Problem aus, sondern irgend ein anderes. Deshalb hängt unendlich viel für das ganze weitere Leben dieses zu erziehenden Menschen davon ab, wie sich der Lehrer nun verhält.

 

Genauer betrachtet ist der "Rubicon" die Krisis des autoritativen Prinzipes im Kind.

 

Was ist das, die Krisis des autoritativen Prinzipes im Kind?

- Dem Kind stellt sich nun instinktiv die Frage: Ich habe alles vom Lehrer. Aber woher hat er es? Was steht hinter ihm? – In dieser Phase hängt unendlich viel davon ab, wie innig und mitfühlend, wie glaubhaft, wie wahrhaftig der Lehrer sich im Umgang mit den Schwierigkeiten verhält, die ihm sein Schüler nun macht. Man kann hierzu keine abstrakten Vorschläge machen, denn die Schwierigkeiten sind nicht gleich wieder vorbei, sondern wiederholen sich auf vielfältige Art über Wochen oder Monate hin. Und alles hängt davon ab, dass es dem Lehrer gelingt, die Sehnsucht des Kindes nach einer vertrauenswürdigen Begleitung zum Guten, Wahren, Schönen, die der Erzieher bis dahin ganz selbstverständlich erfüllen konnte, auch weiterhin vor Enttäuschung zu bewahren. Denn es liegt in der Natur des Menschen, dass er gerade jetzt, da seine „Ich“-Erfahrung auf einer zweiten Stufe, der Stufe des Gefühls eminent wird, nicht wankend werden darf in dem Glauben an den guten Menschen. Sonst wird nicht nur der Glaube an die Welt, sondern damit zugleich auch alle Sicherheit erschüttert, die der Mensch in Bezug auf seine Gemütsentwicklung braucht, um die Herausforderung des Lebens zu bestehen. Die innere Zuversicht, die den Menschen im späteren Lebenskampf begleiten soll, wird hier im Gemüt veranlagt.

 

An dieser Stelle ist angebracht, Rudolf Steiner, den Begründer der Waldorf-Pädagogik, zu zitieren, denn der „Rubicon“ ist die Drehscheibe nicht nur des zweiten Lebensjahrsiebtes, sondern auch die Drehscheibe der gesamten Jugendentwicklung des Menschen:

 

„Wir müssen also damit rechnen, dass gewisse Fähigkeiten nur zwischen dem 7. und dem 14. Lebensjahre des Menschen so entwickelt werden können, dass der Mensch später den Lebenskampf bestehen kann. Würde man diese Fähigkeiten in dieser Zeit nicht ausbilden, so würden die Menschen später dem Lebenskampf nicht gewachsen sein, sondern ihm unterliegen müssen, was heute bei den meisten Menschen der Fall ist.“

 

Pädagogische Konsequenzen:


 

7. – 9. Lebensjahr

Da das Kind in dieser Lebensphase zwar schon innerlich Wohlgefallen oder auch Missfallen am Unterricht entwickelt, aber noch nicht das eigene Wesen von den Wesenheiten seiner Umgebung zu unterscheiden vermag, hat die Waldorf-Pädagogik für die Zeit vom 9. – 10. Lebensjahr in allen Unterrichtsfächern einen besonderen Stil entwickelt: Wo immer es möglich ist, werden die im Unterricht zu beschreibenden Zusammenhänge in der Form bildhafter, möglichst sogar humorvoller Geschichten, auf jeden Fall aber nicht im kausal-analytischen, sondern im ganzheitlich-mythologischen Stil erläutert. Dies geschieht nicht, weil man über alles und jedes einen bestimmten "Heile-Welt-Stil" ergießen will, sondern, weil das Kind in diesem Alter zwar schon bewegliche und unbewegliche, aber noch nicht beseelte und unbeseelte Dinge unterscheidet. Der Fremdsprachen-Unterricht wird aus den selben Gründen ohne abstrakte Grammatik und ohne Übersetzungstätigkeit, mit anderen Worten: rein im gewohnheitsmäßigen Entgegennehmen des Vokabulars, der Architektur (Syntax) und der Klanglichkeit der fremden Sprachen erteilt. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Da in der Grammatik zwischen Subjekt und Objekt unterschieden wird, und man beim Übersetzen zwangsläufig in einen Sprachvergleich zwischen der eigenen und der noch fremden Sprache gerät, müsste man dem Kind etwas abverlangen, das zu dieser Zeit noch nicht seinem Wesen entspricht. Naturgemäß werden Alt-Griechisch und Lateinisch nicht in dieser Lebensepoche gelehrt, da es sich um tote Sprachen handelt, die, wie so vieles andere schwer Verdauliche, der Zeit nach dem „Rubicon“ vorbehalten bleiben.

 

Schreiben und Lesen, Zählen und Rechnen.

Das kleine Kind hat vor dem Zahnwechsel kein Interesse an den Worten seiner Erzieher, sondern nur an den Handlungen und Gefühlen, die diese Worte begleiten. Und so ist dem Kind auch nach dem Zahnwechsel zunächst die intellektuelle Bedeutung der Buchstaben völlig gleichgültig, ja fremd. Unsere heutigen, dem maschinellen Buchdruck angepassten Buchstaben haben sich aus dem gesprochenen Wort erst innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume zu ihrer heutigen Abstraktheit entwickelt. Und am ehesten noch wird das Interesse des Kindes am Vorgang des Schreibens erregt, der ja immerhin eine sichtbare und ausdrucksvolle Handlung ist, wenn dieser als eine Aktivität des ganzen Menschen vollzogen wird: Nicht nur die Hände sollen beim Schreiben in Aktion kommen, sondern auch die Arme, Schultern und der Oberkörper, letztlich müssen sogar der Blick, die Mimik und die Körpersprache involviert sein, sonst fehlt die Magie!       – In Anknüpfung an diese Perspektive des Kindes, und weil im Vergleich dazu das Lesen eine einseitige Beschäftigung des Kopfes ist, bringt die Waldorf-Schule dem Kind das Schreiben gründlichst schon vor dem Lesen bei. Das Schreiben wird daher so in den Unterricht eingeführt, dass die Formen der Buchstaben möglichst gelaufen, mit den Armen in die Luft bewegt, oder malend gezeichnet und dabei in phantasievoller Weise, wie eine Anknüpfung an die Bilderschrift früherer Menschheitsepochen, aus dem anschaulichen Leben entwickelt werden.

 

Erst, wenn das Kind das, was es spricht, schriftlich fixieren kann, und darin eine ziemliche Vollendung erreicht hat, wird es auch in das Lesen eingeführt. Das Lesen wird nun auch sehr viel rascher erlernt, weil das Kind geschriebene Inhalte bereits in sein motorisches System übernommen hat. So kommen Schreibschwäche und Legasthenie gar nicht erst auf, und weil das Kind motorisch beteiligt war an dem Entstehen des Geschriebenen, kann ihm danach die vereinseitigte Kopf-Tätigkeit des Lesens auch gesundheitlich nicht mehr schaden.

 

Ähnliches gilt für das Zählen. Es soll aus den gleichen Gründen dem Rechnen vorangehen und sich möglichst in Anlehnung an die Erfahrung des eigenen Körpers entwickeln: Die 1 aus dem aufrechten Stand, die 2 aus der Zweiheit der Hände, die 3 durch den Einbezug asymmetrischer Organe wie etwa des Mundes, des Kinns, des Halses, des Bauches, die 4 aus den 4 Beinen der Tiere, die 5 aus den Fingern der Hand usw. Außerdem ist es gut, das Zählen in Rhythmen zu üben. Das hilft dem Kind, Zahlen gefühlsmäßig zu Einheiten zusammenzufassen, zum Beispiel, indem es die 2 durch abwechselnd schweres und leichtes Auftreten erlebt, die 3 durch den Walzertakt, die 4 durch den Vierertakt usw. Das macht das Kind geschickt und präzise, weil es das Zählen nicht nur mit dem Kopf lernt, sondern mit dem ganzen Körper. Selbst im hohen Alter bleibt so der Mensch noch geschickt und geschützt vor Arthrose und Gicht.
 Rhythmen und Metren geben dem Kind das Gefühl für die Zahl als eine Ganzheit.

 

Das Gefühl für die Zahl als eine Ganzheit entwickelt sich auch besser, wenn man die Anfänge des Zählens nicht aus der Addition, sondern aus dem Unterteilen von Ganzheiten entwickelt: Am Anfang steht trotzdem noch die 1 als das Einfache, Ganze, aber diese 1 enthält schon alle Zahlen: Das Halbieren der 1 führt zur 2 , das Dritteln zur 3 usw. So wird im Kind die Vorstellung veranlagt, dass die Einheit das Ursprüngliche und zugleich das Umfassende, das alle Zahlen Verbindende ist.

 

Aus dem innerlichen Erfassen des Zahlenmäßigen entsteht also das Rechnen als ein Ausgehen von Ganzheiten. Für das Addieren kann man dies zum Beispiel durch eine Frage anbahnen: Wieviel habe ich im Geldbeutel? – Soundsoviel Geldstücke! – Oder: Hier ist ein Haufen Erbsen. Wie viele Erbsen sind es? – Jetzt teilen wir den Haufen unter drei Kindern auf – und schon ist man beim Dividieren.

 

Selbst beim Subtrahieren und Multiplizieren kann man von der Ganzheit ausgehen: Jemand hat 50 Erbsen in die Tasche gesteckt, aber die hatte ein Loch, und jetzt hat er nur noch 10 Erbsen übrig. Wieviele Erbsen sind also herausgefallen?

 

Und beim Multiplizieren kann man fragen: Wievielmal mehr Erbsen als nachher waren am Anfang in der Tasche drin? Usw. 
Warum ist dieses Betonen der Ganzheit so wichtig für das Kind? – Das Kind soll in das Leben eingeführt werden, nicht in die Pedanterie. Und das Lebendige ist immer ein Ganzes. - Man schadet dem Kind, wenn man es dazu veranlasst, vom Teil zur Ganzheit zu kommen, und so in dem völlig unrealistischen Eindruck aufzuwachsen, dass das Teil der Ursprung des Ganzen sei. Von sich aus hat das Kind ohnehin immer die dazu gegenteilige Tendenz: Gibt man ihm eine Uhr, so will es diese gleich in ihre Teile zerlegen, und ebenso mit allen anderen komplexen Ganzheiten verfahren. Immer sehen wir den Wald zuerst, und dann die einzelnen Bäume, und wir machen uns lustig über Menschen, die vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen. . . .

 

11. – 15. Lebensjahr

Ist der „Rubicon“ überschritten, und das Kind in der Lage, sich selbst von der Welt deutlich zu unterscheiden, dann ist es Zeit, ihm die Natur erneut zu zeigen, und nun nicht mehr in mythischen Bildern, sondern realistisch. Gerade in dieser Hinsicht schadet man aber dem Kind, wenn man es mit Dingen bekannt macht, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Zum Beispiel ist eine in der Botanisiertrommel befindliche Pflanze ein Ding, das es nicht wirklich gibt: Üblicherweise nennt man das Botanisieren mit der Botanisiertrommel „Anschauungsunterricht“. Aber es gibt keine Pflanzen, die unabhängig von der Erde existieren, in der sie wurzeln. Pflanzen sind Teile der Erde, gehören so zur Erde, wie die Haare zu unserem Kopf. Auch einzelne Mineralien kann man dem Kind nicht präsentieren, ohne ihm zu schaden. Denn Minerale entstehen durch die Metamorphosen des Lebens auf der Erde und werden im Gebirge als solche anschaulich, je höher man kommt, desto mehr. Minerale als solche gibt es also auch nicht, sondern nur als die Produkte der Lebensprozesse der Erde.

 

Die Säugetiere andererseits gehören nicht in diesem Sinn zur Erde, denn sie können sich frei bewegen. Statt dessen gehören sie zum Menschen, denn sie tragen menschliche Eigenschaften: Der Esel ist störrisch, der Löwe majestätisch, der Wolf grausam, der Hund treu, das Faultier träge, die Ratte rastlos, usw. Der Mensch andererseits hat etwas Störrisches wie der Esel, etwas majestätisches wie der Löwe. Und auch Grausames wie der Wolf hat er, und gewiss auch Duldsames wie das Lamm. Aber nie hat er eine dieser Eigenschaften in der tierischen Ausschließlichkeit und Spezialisierung. Die Tiere gehören also zum Menschen in der Art, dass der Mensch alle seelischen Eigenschaften der Tiere hat, aber alle Eigenschaften gleichzeitig, so dass ihr Zusammenklang erst das Wesen des Menschen ergibt. Zu diesem Zusammenklang aller seelischen Neigungen des Tierreiches kommen dann allerdings noch die Ideale hinzu, die der Mensch in seiner Seele trägt. Diese wurden in früheren Zeiten als die den Menschen beschützenden Engelwesen verbildlicht. So wird das Kind ganz selbstverständlich mit der Evolution vertraut, nicht aber als Theorie, sondern als Anschauung. Dafür genügt es zunächst, die seelische Verwandschaft des Menschen zur Tierwelt zu spüren, wohingegen alles Theoretisieren über die Abstammung des Menschen vor der Geschlechtsreife pädagogisch verfehlt ist.

 

Auch über Totes, wie Mineralien, und die Kausalzusammenhänge der Chemie und Physik sollte nicht vor dem „Rubicon“, am besten sogar erst nach dem 11. Lebensjahr gelehrt werden. Denn auch hier zeigt sich: Wenn man vor der Geschlechtsreife Physik und Chemie in Abstraktionen lehrt, wird das Kind müde im Unterricht. Die Begriffe der Chemie und Physik führen hingegen zur Begeisterung, wenn sie dem Kind anhand eines lebensnahen Technologie-Unterrichtes beigebracht werden. Dieser reicht von der Behandlung alltäglichster Erscheinungen wie der Herstellung von Bier, Schuhen und Papier, bis zur praktischen Unterrichtung in Gartenbau, Bienenzucht, Buchbinderei, Schreinerei, Landvermessung, Segeln u.s.w.

 

Strafen und Noten.

Eigentlich ist schon die Autorität des Lehrers in Gefahr, wenn er aus dem Lehrbuch lehrt, denn das Kind muss sich nun fragen: Warum soll ich lernen, was selbst mein Lehrer nicht weiß? - Und schon gar nicht kann der Lehrer dem Kind in moralischer Hinsicht etwas abverlangen, das er selbst nicht einhält. Und so ist eben das Einsetzen von Strafe und Konfrontation vergleichbar dem Einsetzen von Gewalt, und kann zumindest gegen Gewalt unter Kindern gewiss nichts erreichen, sondern wird im Gegenteil diese verstärken. Und da auch die Vergabe von Noten letztlich eine subtile Demonstration von Macht ist, muss damit gerechnet werden, dass sie das Aufkeimen von Gewalt unter Schülern fördert. Dasselbe gilt für das Androhen von Strafe, ja, sogar schon für das bedrohliche Konfrontieren eines Schülers bei Fehlverhalten. Es wirkt sich unvermeidlich demoralisierend aus. Ganz anders wirksam ist dagegen, wenn man das Kind ihm selber unbemerkt im Kollektiv beeinflusst. Dies kann zum Beispiel so geschehen, dass sich der Unterricht dem Postwesen zuwendet, nur weil die Kinder begonnen haben, kleine Briefchen kursieren zu lassen. Oder es wird eine Geschichte erfunden, die recht unrühmlich verlief, weil einer nicht den Mut zur Ehrlichkeit hatte. Es ist also Humor und Einfallsreichtum an dieser Stelle gefragt, statt Härte und Machtausübung vonseiten des Lehrers.

 

Was es bringt, für die Leistungen des Kindes eine Zahl zu schreiben, die dann darüber entscheidet, ob es versetzt wird, kann nur der ermessen, der so unterrichtet, dass er vom Lebensalter des Kindes abliest, was gelernt werden soll. Wenn solch ein Kind sitzenbleibt, wird es im nächsten Jahr für ein Lebensalter unterrichtet, das es nicht hat. Das sollte unter allen Umständen vermieden werden, und schon deshalb hat die Waldorf-Schule statt Noten beschreibende Berichte, in denen die Eltern und das Kind detailliert erfahren können, wie sich das Kind in der Schule verhält.

 

Entwicklung des Gedächtnisses

Für die Zeit bis zur Geschlechtsreife ist es nicht essentiell, dass der Unterrichts-Stoff verstanden wird; ungleich wichtiger ist, dass im Bewusstsein des Kindes wachstumsfähige Gedächtnis-Inhalte veranlagt werden. Dazu ist erforderlich, dass das Gedächtnis des Kindes zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife ausreichend geschult wird. Denn diese Schulung kann später nicht mehr nachgeholt werden.

 

Wenngleich auf einem etwas anderen Gebiet spielend, ist daher für den Rückblick auf die beiden Jahrsiebte vor der Geschlechtsreife außerordentlich hilfreich das folgende Zitat aus Jean Pauls genialem Buch: „Levana oder Erzieh-Lehre“, weil es die Schöpferkraft anschaulich macht, die der Mensch erreicht, wenn er schon vor dem Verstand, das heißt bereits durch Nachahmung und Einprägung wesentliche Schritte zur Durchdringung der Wirklichkeit gegangen ist, sodass im Endeffekt der ganze Mensch in den Erkenntnis-Prozess einbezogen werden kann:

 

„Fürchtet keine Unverständlichkeit, sogar ganzer Sätze; eure Miene und eurer Akzent und der ahnende Drang, zu verstehen, hellet die eine Hälfte, und mit dieser und der Zeit die andere auf. Der Akzent ist bei Kindern, wie bei den Chinesen und den Weltleuten, die halbe Sprache. – Bedenkt, dass sie ihre Sprache so gut, wie wir die griechische oder irgendeine fremde früher verstehen als reden lernen. - Vertrauet auf die Entzifferkanzlei der Zeit und des Zusammenhanges. Ein Kind von fünf Jahren versteht die Wörter „doch, zwar, nun, hingegen, freilich“; versucht aber einmal von ihnen eine Erklärung zu geben, nicht dem Kinde, sondern dem Vater! – Im einzigen „zwar“ steckt schon ein kleiner Philosoph. Wenn das achtjährige Kind mit seiner ausgebildeten Sprache vom dreijährigen verstanden wird, warum wollt ihr eure zu seinem Lallen einengen? Sprecht immer einige Jahre voraus (sprechen doch Genies mit uns Jahrhunderte voraus); mit dem Einjährigen sprecht als sei es ein Zweijähriges, mit diesem als sei es ein Sechsjähriges, da die Unterschiede des Wachstums im umgekehrten Verhältnis der Jahre abnehmen. Bedenke doch der Erzieher, welcher überhaupt zu sehr alles Lernen den Lehrern zuschreibt, dass das Kind seine halbe Welt, nämlich die geistige (zum Beispiel die sittlichen und metaphysischen Anschauungs-Gegenstände) ja schon fertig und belehrt in sich trage, und dass eben daher die nur mit körperlichen Ebenbildern gerüstete Sprache die geistigen nicht geben, bloß erleuchten könne. Freude wie Bestimmtheit bei Sprachen mit Kindern sollte uns schon von ihrer eigenen Freude und Bestimmtheit gegeben werden. Man kann von ihnen Sprache lernen, sowie durch Sprache sie lehren; kühne und doch richtige Wortbildungen, zum Beispiel solche, wie ich von drei- und vierjährigen Kindern gehört: der Bierfässer, Saiter, Fläscher (der Verfertiger von Bierfässern, Saiten, Flaschen) – die Luftmaus (gewiss besser als unsere Fledermaus) – die Musik geigt – das Licht ausscheren (wegen der Lichtschere) – dreschflegeln, drescheln – ich bin der Durchsehmann (hinter dem Fernrohr stehend) – ich wollte, ich wäre als Pfeffernüsschenesser angestellt, oder als Pfeffernüssler –am Ende werd´ich gar zu klüger – er hat mich von dem Stuhle heruntergespaßt – sieh, wie eins (auf der Uhr) es schon ist – und so weiter.“

 

Wie das Kind das Gefüge der Sprache innerlich aufnimmt, ohne dass es die Gesetze des Sprachbaues dazu in verstandesmäßigen Definitionen benötigt, so soll der vorpubertäre Jugendliche zur Entwicklung des Gedächtnisses Dinge lernen, von denen er sich erst später das begriffliche Verständnis erwerben kann. Bis zur Geschlechtsreife soll der junge Mensch sich durch das Gedächtnis einen reichen Wissensschatz aneignen. Er soll sich also nicht etwa bloß das merken, was er begriffen hat, sondern er soll die Dinge, die er weiß, allmählich mit dem Verstand durchleuchten. Lernt man nachholend, das heißt in irgendeinem späteren Lebensalter etwas, so kann natürlich der umgekehrte Weg der richtigere sein. Aber die Entwicklung des Gedächtnisses als solches, die im zweiten Jahrsiebt erfolgen soll, lässt sich später nicht mehr nachholen.

 

c. Das dritte Jahrsiebt.

Für die erste Lebensepoche bis zum Zahnwechsel hat, was der Erzieher im Studium *) gelernt hat, für die Erziehung des Kindes die relativ geringste Bedeutung, denn es zählt nur, ws der Erzieher als Mensch ist. Die Ursache hierfür liegt in der besonderen Konstitution des kleinen Kindes: Organische und seelische Tätigkeiten sind im kleinen Kind noch nahezu ungetrennt. So verlebt das kleine Kind nicht nur seine Nächte, sondern auch den größten Teil des Tages schlafend oder träumend, und ist dabei innerlich nahezu ausschließlich mit der Ausbildung und Umkreisanpassung der scheinbar einfachsten Funktionen seines Körper befasst. Das heißt aber nicht, dass das Kind in dieser Zeit wenig lernt. Und es heißt auch nicht, dass es seelisch wenig aus seiner Umgebung aufnimmt, wenn sich sein Tagesbewusstsein noch kaum vom Schlafzustand unterscheidet. Das genaue Gegenteil ist in doppelter Hinsicht der Fall:

 

Allein schon die Betätigung der Augen beim Sehen fordert vom Kind mehr geistige Kapazität, als ein Mathematik-Student für sein erstes Semester benötigt. Allerdings sind die damit nur beispielhaft angedeuteten Lernprozesse des Kleinkindesalters, -wie schon zuvor gesagt-, noch tiefschlafend-unbewusst. In der anthroposophischen Terminologie werden sie daher im Unterschied zum intellektuellen, vollbewussten Lernen des Erwachsenen als "willenshaft" bezeichnet. Und auch die Sinneswahrnehmungen, die für den Erwachsenen die Grundlage des bewussten Erkennens liefern, sind im kleinen Kind noch ganz und gar von "willenshafter" Art: Wie im Auge, -uns selber unbemerkt-, der Sehpurpur zerfällt, wenn wir die Netzhaut dem Licht exponieren, so werden im kleinen Kind nicht nur die Augen, sondern alle Organprozesse bis ins Innerste des Organismus hinein durch das beeinflusst, was in der Umgebung geschieht. Das Kind ist insofern durch und durch ein Sinnesorgan, dies aber nicht erkenntnismäßig-bewusst, sondern tiefschlafend-willenshaft. Einerseits ist also das kleine Kind aufgrund der tiefschlafend-unbewussten Innerlichkeit dieser ersten Stufen seiner Ergreifung und Umkreisanpassung der Leibesfunktionen noch kaum erreichbar für das, was der Erzieher in Worten und Bildern ausspricht. Andererseits aber greift mit einer später nie mehr erreichten Stärke und Tiefe das in die seelische, und auch die körperliche Entwicklung des kleinen Kindes ein, was zu dieser Zeit durch Erzieher in der unmittelbaren Umgebung des kleinen Kindes getan und gefühlt wird.

 

Für diesen offen beobachtbaren Zusammenhang des Kindes mit seiner Umgebung wurden schließlich auch die neurobiologischen Grundlagen entdeckt: Die so genannten Spiegel-Neurone. (Näheres hierzu in dem Buch: „Warum ich fühle, was du fühlst“ von Joachim Bauer, Erstauflage 2005).

 

In dem genannten Buch wird auch geschildert, dass die Tätigkeit der so genannten Spiegel-Neurone mit der fortschreitenden Ich-Entwicklung des Kindes einhergehend gehemmt wird, da ohne diese Hemmung eine individuelle Befreiung des Willens ja nicht möglich wäre. Aber trotz ihrer mit dem Alter zunehmenden Hemmung bleiben diese so genannten Spiegel-Neurone zeitlebens als physische Grundlage des sozialen Bewusstseins des Menschen aktiv.

 

Nach dem Zahnwechsel beginnt die Ausbildung des Lehrers schon mehr Bedeutung für die Erziehung des Kindes zu haben, denn im Unterschied zum kleinen Kind, das bis in sein Innerstes hinein ein Sinnesorgan für alle Vorgänge ist, die sich in seiner Umgebung abspielen, werden die Sinneswahrnehmungen im zweiten Jahrsiebt schon weiter nach außen, in die Peripherie des Organismus verlagert, und damit zugleich beträchtlich leibfreier. Dies wird dadurch möglich, dass die Gehirn- und Kopfgestaltung nun größtenteils abgeschlossen ist, wofür der Zahnwechsel, - der zwar um das Ende des ersten Jahrsiebtes in Gang kommt, aber noch weit in das zweite Jahrsiebt hineinreicht-, ein vielsagendes äußeres Symptom ist. Das Kind entwickelt nun ein freieres Denken, Fühlen und Wollen, als dies zuvor bei der Leibergreifung durch bloße Nachahmung der Fall war. Als erstes Symptom dieser neuen Freiheit tritt die zunehmende Beherrschung der Erinnerungsfunktion im Inneren des Kindes auf: Erstmalig hat das Kind die Möglichkeit, Erlebtes auch dann noch im Bewusstsein zu halten, wenn der sinnliche Anlass bereits vorbei ist - eine grundlegende Voraussetzung für das Erziehen im schulischen Rahmen. Andererseits aber ist ja die Leibbildung auch jetzt noch nicht vollendet. Sie schreitet nun vom Kopf zur Ausgestaltung des mittleren Menschen fort. Was ist dieser "mittlere Mensch"? - Mit dem "mittleren Menschen" sind Organsysteme gemeint, die den Kopf als die größtmögliche räumliche Synthese aller Organfunktionen auf engstem Raum, - nichts anderes ist nämlich unser Gehirn-, lebendig verbinden mit der größtmöglichen prozessualen Differenzierung des Stoffwechsels an der Peripherie des Organismus. Eine solche lebendige Vermittlung schaffen organische Prozesse, deren wesentlichstes Merkmal der Rhythmus ist.

 

Rhythmus ist nicht die Wiederholung des Gleichen, - das wäre der Takt einer Maschine -, sondern die Wiederholung des Ähnlichen, also dessen, das schon in der Zeit ein Stück vorangeschritten ist. Rhythmus ist insofern das Zusammenfügen von Gegensätzen in der Zeit, ist das Verbinden von Zukunft und Vergangenheit, von Spannung und Entspannung, von Ausdehnung und Zusammenziehung, von Auf- und Abbau zu einer im Lebendigen gegenwärtigen „Zeitgestalt“ (Die es aber streng genommen für unser Denken gar nicht geben kann, weil „Zeit“ nur in der Verwandlung, „Gestalt“ hingegen nur im Aufhalten der Verwandlung manifest werden kann).

 

Insofern es keine Organprozesse gibt, die nicht rhythmisch verlaufen, ist Rhythmus überall im Organismus vorhanden, wo Leben vorhanden ist. Dennoch kann man beobachten, dass die Rhythmizität des Lebens ihre offenkundigsten Zentren im Atemrhythmus der Lunge und im Pulsrhythmus des Herzens hat. Von dieser, nicht mit Schematismus zu verwechselnden Charakterisierung, leitet sich die Bezeichnung des rhythmischen Systems des Menschen als des "mittleren Menschen" ab. Was ist schematischer: den Organismus als einheitlich, oder als differenziert zu betrachten?

 

Mit der Ertüchtigung und Stabilisierung des "mittleren Menschen" ist also das Kind ganz besonders im Anschluss an den Zahnwechsel befasst. Da dieser "mittlere Mensch" nicht nur ein rhythmischer Vermittler zwischen den sich komplementär ergänzenden Prozessen des Kopf- und des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems, sondern zugleich auch die organische Grundlage des Gefühlslebens ist, kann die Erziehung im 2. Jahrsiebt nicht gleich den Intellekt, sondern vorerst nur das Gefühlsleben des Kindes erreichen. Die ganze Fülle des Unterrichtsstoffes muss daher mit künstlerischem Sinn in anschauliche Bildlichkeit, in lebendiges Gestalten umgesetzt werden, wenn die Pädagogik der besonderen inneren Verfassung dieser Lebensepoche gerecht werden soll. Und selbst dann ist das Kind noch nicht in der Lage, der Außenwelt ganz auf eigene Faust entgegenzutreten. Zu sehr ist es noch immer mit sich selbst befasst, und braucht deshalb die Autorität des Lehrers.

 

Dies ändert sich fundamental mit dem Eintreten der Geschlechtsreife, als deren sprechendste Symptome der Stimmwechsel beim männlichen, die Menstruation hingegen beim weiblichen Geschlecht sind. Die Geschlechtsreife beendet das zweite Jahrsiebt, das als mittlere Epoche der Jugendzeit des Menschen ja nur ganz allgemein, also mal mehr, mal weniger als etwa 7 Jahre dauert.

 

Und nun, da der junge Mensch die Fähigkeit erlangt, sich selber physisch fortzupflanzen, tritt er erst ganz aus seiner Innerlichkeit heraus und wird ein Teil der Menschheit. Erst jetzt erlangt, was der Erzieher im Studium gelernt hat, seine volle pädagogische Wirksamkeit für den Unterricht, denn nun genügt die Autorität dem Schüler nicht mehr, nun müssen vernünftige Gründe für alles und jedes nennbar gemacht werden, das die Regeln des sozialen Verkehrs unter Menschen bestimmt. Nun werden die Vernunft und das abstrakte Verstehen des Unterrichts-Stoffes für den Schüler essentiell, und zugleich tritt die Empfindung, tritt das Gefühl für das Allgemein-Menschliche auf, tritt das Phänomen der Geschlechterliebe auf. Das löst nicht nur Freude und Befreiung , sondern auch deren heftigste Gegenstücke, löst Tumult und Rebellion aus, die bis zur radikalen Enttäuschung und Haltlosigkeit führen können. Denn was da im Jungendlichen so plötzlich mit der Geschlechtsreife an die Außenwelt anstößt, das stammt nicht aus dieser Außenwelt, sondern ist pure Innerlichkeit, die auf den Wogen der nun gerade erst leibfrei geworden Fantasie-Kräfte aufwallt.

 

In dieser Situation muss es dem Erzieher ganz darauf ankommen, seine altersbedingt überlegene Vernunft-Erfahrung ins Spiel zu bringen, die ihn dazu befähigt, die Welt, wie sie jetzt nun einmal ist, in ihrem historisch gewordenen So-Sein als wenigstens halbwegs vernünftig zu relativieren. Sonst kann der Sturm der Gefühle und enttäuschten Ideale den Jugendlichen überwältigen und regelrecht aus der Lebensbahn werfen. Wie sehr also zuvor noch, besonders beim Durchschreiten des "Rubicon", die liebevolle Autorität des Lehrers wegweisend für das Kind im zweiten Lebensjahrsiebt gewesen ist, so sehr wird nach dem Eintritt der Geschlechtsreife das Ausüben und Einfordern von Autorität zum reinen Gift für den pädagogischen Erfolg der Erziehung. Es kann also dem Erzieher für dieses Lebensalter nur geraten werden, sich ganz auf die Kräfte der Vernunft zu berufen und tunlichst alles zu vermeiden, was in den Augen des Schülers auch nur den leisesten Anschein einer bürgerlichen, konfessionellen oder sonstwie auf Macht gegründeten Rechtfertigung der Weltverhältnisse erwecken könnte.

 

Resümee.

Abschließend lassen sich die Stufen der Waldorf-Pädagogik formelhaft zusammenfassen:

 

Im 1.Jahrsiebt ist für den Menschen substantiell wirksam, dass er sinneshaft (z.B. über seine Spiegel-Neuronen) wahrnimmt: „Die Welt ist gut“. Daraus fließt ihm der Lebensmut und die Fähigkeit, das Wollen anderer Menschen zu lieben. Dies ist die Basis für alles demokratische Zusammenleben der Menschen.

 

Im 2.Jahrsiebt entwickelt der Mensch das Gefühl: „Die Welt ist schön“, das ihm aus der ästhetischen Fantasie zufließt. Daraus kann er die Lebensfreude für alle folgenden Jahre und die Fähigkeit schöpfen, sich selbst im Lebenskampf zu bewähren. Dies ist der Geist der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft.

 

Im 3.Jahrsiebt wird dem Menschen erkennbar: „Die Welt ist wahr“ Er kann daraus die Freiheit gewinnen, die ihm das unabhängige Urteil und den individuellen Lebensplan ermöglicht. Dies ist die Kraft für alle zukünftigen Entwicklungsimpulse der Menschheit.

 

*) In Waldorf-Lehrer-Seminaren, z.B. in Stuttgart, Bonn und Witten/Annen, werden Waldorf-Lehrer ausgebildet.

 

 

 

 

 

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