DIE VORGEBURTLICHKEIT DES MENSCHEN

 

Es scheint mir sinnvoll, im Zusammenhang des hier Vorgebrachten einen Aufsatz von Prof. Dr. med. Peter Selg, Ita Wegman Institut für anthroposophische Grundlagenforschung, Pfeffingerweg 1a, CH-4144 Arlesheim/Schweiz, wiederzugeben, der im Internet frei zum Download bereitsteht:

Peter Selg, Arlesheim 

Die Ungeborenheit des Menschen und ihre Bedrohung.

 

 

Einleitung

Rudolf Steiner war der Auffassung, dass Anthroposophen sich mit der Not der Gegenwart beschäftigen, "von dem Nerv der Zeit ergriffen“ sein soll (1, S. 158).

 

Zu den größten Herausforderungen unserer Zeit gehört  die Bedrohung der frühen Kindheit des Menschen, worüber sich unzählige Fachgremien und – Publikationen einig sind.

 

Mit dieser Bedrohung sind die Angriffe auf das Menschenwesen und seine Entwicklungsvoraussetzungen gemeint, die mit Hilfe moderner Medien, auf den Wegen des Konsums, durch dissoziierte Sozialformen, zerstörte Lebensräume und verfremdete „pädagogische“ und medizinische Einflüsse – außerordentlich verstärkt worden sind, obwohl hier am meisten auf dem Spiel steht.

 

Der Mensch wird bei gesunder Entwicklung in den ersten Jahren vom „Gottessohn“ zum „Menschensohn“, er benötigt dafür aber die entsprechenden Hilfen, insbesondere altersgemäße Beziehungsformen und -stabilitäten, eine Atmosphäre des Werdens in Sicherheit und Vertrauen und bildsame Anregungen, die in vielen Erdenregionen gegenwärtig kaum mehr gegeben sind.

 

In der frühen Kindheit bildet der Mensch seinen lebensgeschichtlich tragenden Leib aus – in der Umgebung und an der Umgebung – und ist dabei einer Unzahl von Irritationen ausgesetzt, deren Folgeschäden nur mit größter Mühe und unter günstigen Umständen wieder ausgeglichen werden können. 

 

„Die am Menschen im Kindheitsalter wirksamen Kräfte erkennen, heißt den Christus im Menschen erkennen“, betonte Rudolf Steiner (3, S. 22) – und schilderte das Wirken und die Wesensart der von ihm gemeinten Kräfte im Einzelnen (4, S. 35f.). Er entwickelte eine menschenkundliche Pädagogik, die  im 20. Jahrhundert ihresgleichen sucht, und legte eine ausdifferenzierte, medizinisch hochrelevante Entwicklungsphysiologie vor

 

Das anthroposophische Verständnis der Ungeborenheit.

Um auch in diesem Bereich eine humane Medizin und Sozialgestalt der Zukunft zu ermöglichen und aktiv mit vorzubereiten, gewichtete Rudolf Steiner die „Ungeborenheit“ des Menschen hoch. Das aber heißt: die Anerkennung der Tatsache, dass das Kind vor Eintritt in die Erdenwelt, ja sogar vor Eintritt in die Empfängnis aus einer kosmischen Sphäre kommt, in der es bereits ein individuelles Dasein hat. 

 

Die Individualität, das „Grund-Ewige“ des Menschen. will von sich aus, so Rudolf Steiner, dieses Erdenleben. Die Individualität strebt auf das Erdenleben bereits präkonzeptionell zu und bildet sich in der aktiven Begegnung und Auseinandersetzung mit den Eltern und den Umweltkräften (sowie mit Unterstützung hoher geistig-hierarchischer Wesen) einen Leib, um mit ihm in der Erdenwelt sein und wirken zu können: 

 

„Das ist der radikalste Gedanke, der in die Gegenwarts-menschheit einschlagen muss, dass der Mensch sein physisches Leben nicht bloß als Vorbereitung für das Leben nach dem Tode anzusehen hat, sondern dass er es anzusehen hat auch als Fortsetzung eines geistigen Lebens vor der Geburt.“ (5, S. 251).

 

Jeder Mensch, so Rudolf Steiner, hat eine „Mission“, eine Aufgabe und ein Ziel auf Erden. Er wird weder „zufällig“ noch „überraschend“ geboren, sondern begibt sich aktiv – und oftmals gegen eine Vielzahl von Widerständen – in den Erdenraum, um hier seinen Weg, seine diesmalige „Biografie“, antreten zu können. Die „Sehnsucht“ nach derselben wird wirksam und führt zur Entwicklungsgestalt der Inkarnation.

 

In den Worten Christian Morgensterns heißt dies: 

„Was jetzt Sehnsucht ist, wird Wille, / was jetzt Wille ist, wird einst Kraft / nach der großen, reichen Stille. / Kraft, die das Gewollte schafft, / Wille, der aus diesem Schaffen / abermals uns weiter rafft.“ (6, S. 511). 

 

Die „große, reiche Stille“ verstanden Christian Morgenstern und Rudolf Steiner gleichermaßen als das Sein zwischen Tod und neuer Geburt, als die lange Zeit zwischen zwei Inkarnationen in der geistigen Welt – sowohl im Nachklang als auch in der Nachbearbeitung des letzten und in der Vorbereitung eines künftigen Erdenlebens.

 

Rudolf Steiner trat mit Nachdruck für diese „Ungeborenheit“ ein, für das Rechnen mit dieser verkannten, geleugneten, ja der völligen Nichtigkeit überstellten Seite der menschlichen Existenz.

 

„Wir ahnen nicht einmal, was uns [heute] nach dieser Richtung fehlt.“ (7, S. 260) Aus der „Sehnsucht“, die sich in der nachtodlichen Weiterwirksamkeit des beendeten Erdenlebens als der unbedingte Wille zum Ausgleich geltend macht, die Fehler und Versäumnisse des zuletzt gelebten Lebens künftig zu korrigieren, entsteht der Impuls der Veränderung, der Wille des Menschen zur Zukunft.

 

Der geistige Keim des physischen Leibes und die „Sonnensphäre“.

Vorbereitet wird der künftige Leib, den Forschungen Rudolf Steiners zufolge, in erster Linie in der geistigen „Sonnensphäre“, im Zusammenhang der menschlichen Individualität mit hohen Wesen der himmlischen Hierarchien, insbesondere mit Wesen der zweiten Hierarchie der Exusiai, Dynames und Kyriotetes.

 

 

Zur anthroposophischen Anthropologie der Willenskräfte

 

Die Bildung der „Geistgestalt“ einer künftigen physischen Leib-lichkeit auf Erden, eines „Geistkeims“ der kommenden Physis, wird im geistigen Kosmos veranlagt als ein „gewaltiges Gewebe von kosmischer Größe und Grandiosität“ (9, S. 115f.). „Das ist das geistige Kulturziel, und es ist gewaltiger, unendlich viel gewaltiger und großartiger als das irdische Kulturziel.“ (10, S. 201) „Wir weben die Menschheit aus dem Kosmos heraus.“ (11, S. 35). Dieses „Wir“ meint nicht die Menschenseele allein; es kann nur zusammen mit den hohen Sonnenkräften geistiger Wesenheiten schöpferisch wirksam werden, das heißt, ist von diesen in entscheidender Weise abhängig und an sie gebunden. Der Mensch lebt in der Sonnensphäre „als Geist unter geistigen Wesenheiten“; „Innen“ und „Außen“ schwinden: 

 

„Im Erleben des kosmischen Gebildes, welches der geistige Keim seines künftigen physischen Organismus ist, ist der Mensch während des vorirdischen Daseins. 

 

Dieses geistige Gebilde wird als eine Einheit mit dem ganzen geistigen Kosmos anschauend erlebt und offenbart sich zugleich als der kosmische Leib des Menschenwesens. Der Mensch fühlt den geistigen Kosmos als die Kräfte seines eigenen Wesens. Sein ganzes ungeborenes Dasein besteht darinnen, dass er sich in diesem Kosmos erlebt. Aber er erlebt nicht nur sich. Denn es trennt ihn dieses kosmische Dasein nicht wie später sein physischer Organismus von dem übrigen Leben des Kosmos ab. Er ist diesem Leben gegenüber in einer Art Intuition. Das Leben anderer geistiger Wesen ist zugleich sein Leben. 

 

In dem tätigen Erleben des Geist-Keimes seines künftigen physischen Organismus hat der Mensch sein vorirdisches Dasein. Er bereitet selbst seinen Organismus vor, indem er in der geistigen Welt mit anderen Geistwesen an dem Geist-Keim arbeitet. Wie er während des Erdendaseins durch seine Sinne in einer physische Umwelt lebt und in dieser tätig ist, so hat er im vorirdischen Dasein seinen im Geiste sich erbildenden physischen Organismus vor sich; und seine Tätigkeit besteht in der Teilnahme an dessen Gestaltung, wie seine Tätigkeit in der physischen Welt in der Teilnahme an der Gestaltung der physischen Dinge in der Außenwelt besteht.“(12, S. 49) 

 

Alleingelassen wäre der Mensch nachtodlich ohnmächtig, hilflos und verloren. Der Weg seiner Individualität durch die Sphären des Himmels ist ein Weg des Angewiesenseins und der Partizipation, der „Teilnahme“ und Anteilnahme, mithin eine Schulung zur Selbstlosigkeit. „Unsere Arbeit ist eine mit den Göttern gemeinsam geleistete Arbeit an dem Erdenmenschen.“ (11, S. 35).

Die geistige Veranlagung einer künftigen Leibesbildung findet nicht nur viele Jahrhunderte vor Antritt eines neuen Erdenseins (bzw. vor dem Eintritt in die beginnende Embryonalperiode im Mutterleib) statt, sondern bereits in der Ausweitungsphase des nachtodlichen Daseins; sie beginnt in jenem Stadium des nachtodlichen Seins, das, so Rudolf Steiner, von der Einverwandlung des Menschen in den Kosmos (dem „Kosmos-werden des Menschen“) bestimmt ist (11, S. 24). Bereits in dieser Zeit, noch lange vor dem Umschlagspunkt der „Weltenmitternacht“, an dem sich die Rückwendung des Menschen vom Kosmos zur Erde und zu seinem künftigen Erdensein ereignet, vollziehen sich die erwähnten „Geistkeim“-Vorgänge im Sonnenbereich (13, S. 38f.).  

 

Rudolf Steiner schildert des weiteren, dass bereits im Bereich des ersten kosmischen Sonnendurchganges die Individualität des Menschen Eindrücke von ihrem künftigen Erdensein gewinnt, Bilder ihres künftigen Erdenlebens – im Schicksalsausgleich des zuletzt geführten, der nunmehr kosmisch veranlagt wird. Erneut geschieht die Vorbereitung im Zusammenhang mit hierarchischen Wesen. Wesenheiten der ersten Hierarchie, Seraphime, Cherubime und Throne, führen der menschlichen Individualität ihre Ausgleichstaten gewissermaßen vor, zeigen sie ihm im Sinne eines „Götterbildes“: „Da durchleben Seraphim, Cherubim und Throne ... dasjenige, was dann unser Schicksal wird, wenn wir wiederum heruntersteigen, was wir schicksalsmäßig realisieren.“ (14, S. 137)

 

Diese Präsentation des „Götterbildes“ ist für die menschliche Individualität nicht nur tief eindrucksvoll, sondern ermöglicht die reale Annahme des künftigen Schicksals zumindest anfänglich: „Unser Karma, wie es sich erfüllen wird, wir nehmen es auf uns, weil wir es zuerst in den Göttertaten der Seraphime, Cherubime und Throne erblicken.“ (15, S. 111)

 

Bereits in der allerersten nachtodlichen Zeit, im Nacherleben und in der beginnenden Verarbeitung der jüngsten Lebensgeschichte, lange vor Eintritt in die Sonnensphäre, machen sich schicksals-bildende Kräfte und Ausgleichstendenzen initial geltend, verbunden mit Willenselementen, diesen Ausgleich in Zukunft verbindlich zu leisten: „Was jetzt Sehnsucht ist, wird Wille ...“(16) 

 

Nun jedoch, in der „Sonnen“-Phase der Leibveranlagung, geschieht erst die konkrete Schicksalsvorbereitung – denn der dort konzipierte Leib und der durch den Leib möglich werdende Lebensgang sind zu Instrumenten oder Verwirklichungsorganen der Schicksalserfüllung bestimmt. Es ist unser Leib, der uns zu wichtigen Begegnungen führt. Durch ihn, an ihm und mit ihm machen wir irdische Erfahrungen und tragen sie aus; an ihm und in ihm ereignen sich auch all unsere Krankheiten, Traumatisierungen und Schmerzen, denen eine schicksalhafte Dimension zumindest partiell zukommt. Mit Hilfe des Leibes aber werden auch viele unserer Lebensfreuden und -taten möglich,die ebenfalls zu unserem sinnvollen, schicksals-bezogenen (-getragenen und -stiftenden) Erdenweg gehören. Mit der künftigen Leiblichkeit wird das konkrete Schicksal des Menschen also schon in der Sonnensphäre konzipiert. An beiden, in sich jeweils fundamentalen Vorgängen, der geistigen Leibbildung und der eigenen Schicksalsveranlagung, ist die Individualität des Menschen beteiligt – mehr aber auch nicht. 

Sie formt aus ihren eigenen Kräften heraus weder den Leib noch das ausgleichende Schicksal. Sie nimmt jedoch an der Gestaltung von Leib und Schicksal teil, ist einbezogen und präsent, wobei sie sich noch bis zum „Mitternachtspunkt“ ihrer Wanderung weiter von der Erde entfernt. Sie wird dabei, im Heraustritt aus der Sonnensphäre, in planetarische Bereiche und Kräfte geführt, die fähigkeitsbildend oder – veranlagend wirken und solchermaßen gestatten, das konzipierte Schicksal in Zukunft tatsächlich leben und ausgestalten zu können.

 

Unsere Talente ermöglichen die Erfüllung unserer Erdenaufgaben, die uns schicksalhaft eingeschrieben sind. Zu diesen Aufgaben gehören nicht nur spezifische Arbeiten in der Erdenwelt, die dort auf uns warten, sondern auch Begegnungen und menschliche Beziehungen, in denen vieles zu leisten und wieder gutzumachen ist.

 

Zeit-, Raum- und Sozialgefüge der Inkarnation
Dann jedoch ereignet sich der Wende- oder Umschlagspunkt – der Übergang vom Kosmoswerden des Menschen zurück zum Menschwerden des Kosmos(11, S. 24). Das„Selbstgefühl“ erwacht in kosmischen Höhen in neuer und intensiver Weise und mit diesem Erwachen des Selbstgefühls tritt, so Rudolf Steiner, das Bedürfnis nach einem neuen Erdendasein auf, der „Hunger nach der Schwere“(17, S. 94f.).

Geleitet von hohen hierarchischen Wesen vollzieht (und erfährt) die Individualität des Menschen nun die Wahl von Zeit und Raum ihres künftigen Erdenseins, trifft die folgenreiche Entscheidung für eine bestimmte geschichtliche Epoche und einen bestimmten Ort – als Lebens-, Sprach-, Kultur- und Geschichtsraum der frühen Kindheit (und möglicherweise auch des späteren Lebens). Erst danach, so Rudolf Steiner weiter, findet die „Wahl“ des familiären „Stromes“, erneut mit hierarchischer Hilfe statt, eines Familien- und Erbzusammenhangs, in den die Individualität viele Jahrhunderte später hineingeboren wird und an dessen Ausgestaltung sie bereits von der geistigen Welt aus beteiligt ist (13, S. 42f.).

 

Das bisherige „Himmelsinteresse“ wird in dieser Zeit der kosmischen Wanderschaft, der „großen, reichen Stille“, zu einem Interesse an den Generationenfolgen. „Nachdem man zuerst in den Kosmos hineingewachsen ist, wächst man später in die reale, in die konkrete Menschengeschichte hinein.“ (11, S. 39)

All dies sind Vorgänge, die nicht mehr zur kosmischen Ausweitungsphase, sondern bereits zum Vorgang der Menschwerdung, zum Konzentrations- und Inkarnationsprozess in der Richtung der Erde gehören. 

Der Lebens-Vorblick und die Schicksalsbereitschaft
Die letztgültige oder letztverbindliche Annahme des individuellen Schicksals im künftigen Erdensein geschieht, so Rudolf Steiner, erst in der wirklichen Annäherung an die Erdensphäre, in der Integration des im „Monden“- Bereich zurückgelassenen, beladenen „Restes“ des letzten Erdenseins (13, S. 36 und 52f.) und in der finalen Gewahrwerdung der wirklichen Dramatik des künftigen Erdenseins. Diese Dramatik betrifft nicht lediglich persönliches Unglück und persönliches Leid, die Teil des eigenen Karmas sind und in einem Ausgleichszusammenhang stehen, sondern auch das „Zeitenkarma“, dem sich der Einzelne stellen muss und dem er sich – spätestens seit Anbruch des 20. Jahrhunderts und der realen „Globalisierung“ aller Erdenereignisse – immer weniger entziehen kann. Am 2. Mai 1913 sprach Rudolf Steiner in London über dasjenige, was im geistigen Umraum der Erde durch die Folgen des Materialismus im 19. Jahrhundert geschah und vermutlich auch weiterhin geschieht – und berichtete von einem zweiten Mysterium von Golgatha im Ätherischen und von den schweren Leidensvorgängen des Christus und der sogenannten nathanischen Seele (18, S. 44f.), (19, S. 93f.), (20, S. 25f.), (21,S. 74f.). 

Durch diesen Gürtel des Leides hindurch muss sich die Menschenseele inkarnieren – und sie begegnet in der Annäherung an die Erdensphäre vielen Seelen, die sich gerade von ihrem Leib gelöst haben und teilweise Opfer von Kriegen und Gewalttaten, aber auch zivilisatorisch bedingten Vorgängen der Sinnentstellung und der geistigen Leere geworden sind (1), (23), (24, S. 1471f.).

Die Menschenwesenheit muss in dieser Situation in einem Vorblick auf ihr künftiges Erdensein ihren bereits getroffenen Willensentschluss zum Antritt der Erdenbiografie aufrecht erhalten und noch einmal bekräftigen.

„Unmittelbar vor der Verkörperung tritt ein sehr wichtiges Ereignis ein, das demjenigen im Moment des Todes parallel ist. Wie unmittelbar nach dem Tode die Rückerinnerung an das vergangene Leben gleich einem Tableau vor die Seele tritt, so ist unmittelbar vor der Einkörperung eine Art Vorgesicht auf das kommende Leben vorhanden. Man sieht nicht alle Einzelheiten, aber in großen Umrissen alle Verhältnisse des kommenden Lebens vor sich. Dieser Moment ist von ungeheurer Bedeutung.“(25, S. 52) 

Ein „Vorgesicht“ – „ein Vorausschauen der Zukunft, ein Vorauswissen“ – ereignet sich, so Rudolf Steiner, „wenn nun der Mensch mit seinem zukünftigen Ätherleib sich verbindet“ (26, S. 159).

Der Zeitpunkt des biografischen Vorblicks liegt damit ungefähr bei der irdischen Empfängnis (und den auf sie folgenden Wochen) – während sich die Ei- und die Samenzelle verbinden, „kleidet“ sich die menschliche Geistseele in einen ätherischen, aus kosmischen Kräften zusammengezogenen Organismus ein (27, S. 104). In der Verbindung der Geistseele – respektive der in ihr wirkenden Individualität – mit diesem ätherischen Organismus entsteht das „Vorgesicht“, der Vorblick auf das künftige Erdensein mit all seinen Hindernissen, Schicksals- und Zeitbürden. 

„Dieser Moment ist von ungeheurer Bedeutung. Es kommt vor, dass Menschen, die in früheren Leben viel gelitten haben und sehr Schweres durchgemacht haben, beim Anblick der neuen Verhältnisse und Schicksale einen Schock bekommen und die Seele zurückhalten vor der ganzen Einkörperung, so daß nur ein Teil der Seele in den Körper eingeht.“(25, S. 53).

 Rudolf Steiner deutet auf Entstehungsumstände einer – im weitesten Sinne – „behinderten“ Inkarnation hin (und nannte die Neigung zu Krampfanfällen als ein Beispiel für diesen Zusammenhang). Aber auch eine gänzliche Verweigerung und ein Rückzug können erfolgen – und bekanntlich führt ja keinesfalls jede gelungene Ei- und Samenzellvereinigung zu einer wirksamen Schwangerschaft und späteren Geburt. Hier, zu diesem Zeitpunkt, ist demnach ein letztgültiger Willensentschluss zum Antritt der Erdenbiografie von Seiten der Individualität aktiv zu fassen. 

Anmerkung  
Zur Bedeutung dieser generationalen Begegnung der Ungeborenen (nahe vor der Konzeption Stehenden) und der Gestorbenen im Hinblick auf die Entstehung der ersten Waldorfschule vgl. unter anderem (22).

Der die Inkarnation wollende Mensch ist dabei keineswegs völlig allein – nicht nur erwartende Eltern können sich gegebenenfalls unterstützend in seine Richtung wenden, sondern auch das Christus-Wesen lebt, so Rudolf Steiner, im ätherischen Umraum der Erde. Ihm begegnet die Menschenseele unmittelbar nach dem Tod, in der Lösung vom ätherischen Leib („In Christo morimur“), aber auch vor Anbeginn des Erdenweges, als einer helfenden und geleitenden Macht. 

 

Ahrimanische Akzeleration und Kognition 

Nicht nur die Embryonal- und Fötal- und die frühkindliche Entwicklung des sensiblen und labilen Menschenwesens ist umkämpft, sondern auch die kosmisch vorausgehende Wegstrecke des Inkarnationsganges, seit dem Umschlag der „Weltenmitternacht“ vom „Kosmisch Werden des Menschen“ zum „Menschwerden des Kosmos“, wie Rudolf Steiner in London am 24. April 1922 ausführte: 

 

„Ahriman erreicht seine großen Erfolge dadurch, dass er die zweite Hälfte des menschlichen Lebens vom Tode bis zu einer neuen Geburt verkürzt. Dadurch ergreift er mit einer großen Hast, mit einer starken Energie das menschliche Gehirn mit seiner Denkkraft. Er hakt sich gewissermaßen in das Gehirn hinein. Ahriman sucht die Menschen dadurch immer mehr an die Erde zu bannen. Das ist die Art, wie ahrimanische Kräfte immer mehr auf den Menschen wirken, wie sie die Denkkraft immer mehr hereinbringen wollen in das Erdenleben in Bezug auf die geistige Welt: die Menschen kommen ein bis zwei Jahrhunderte zu früh auf die Erde.“ (28, S. 192) 

 

Steiners paradigmatische Aussagen öffnen den Verständnishorizont für die vielen Kinder, die heutzutage bereits kurz nach der Geburt unruhig und überwach erscheinen und später, inmitten einer kognitiv zentrierten Zivilisation, eine einseitige Zentrierung (und Förderung!) im Sinnes- und Intelligenzbereich erfahren – durch digitale Medien und entsprechende „Erziehungstechniken“ gestützt und ganz im Sinne Ahrimans bzw. der von ihm betriebenen Mechanisierung und Kapitalisierung der Erde. Als Ursachen für die Eigenart dieser Neugeborenen werden oft Irritationen in der Schwangerschaft gesucht, im Lebensfeld und in der Lebensstimmung der Mutter, auch in der Atmosphäre der Geburt. Rudolf Steiner wies dies nicht vollständig zurück, weitete aber die Perspektive der Betrachtung ganz erheblich aus – „die Menschen kommen [durch die ahrimanischen Kräftewirksamkeiten] ein bis zwei Jahrhunderte zu früh auf die Erde...“ 

 

Der kosmische Mensch und seine Hüllenorgane 

Man sollte, so betonte er, diese Zusammenhänge kennen, sich jedoch nicht durch sie entmutigen lassen – und vielmehr versuchen, dazu beizutragen, dass die damit umrissene Entwicklungstendenz nicht zur völligen Dominanz gelangt. Die von Ahriman bewirkte Beschleunigung und „Verkürzung“ der präkonzeptionellen Entwicklungszeit kann von uns, „nach menschlichem Ermessen“, nicht beeinflusst werden. Bei der Gestaltung der Schwangerschaft, der Geburt und der frühkindlichen Entwicklung aber sind menschliche Haltungen und Entscheidungen gefragt – Haltungen und Entscheidungen aus Menschenerkenntnis, auf der Grundlage einer realen Anthropologie, einer humanspezifischen Inkarnationslehre, die mit Hilfe der Anthroposophie neu ausgebildet werden kann. Zu dieser Inkarnationslehre gehören die Erkenntnis des Urbildes der „kosmischen Menschwerdung“ aus dem kosmischen Umkreis in die irdische Zentrierung des Leibes – und auch die Einsicht darin, dass die höheren Wesensglieder des Menschen, trotz der anhaltenden Eingriffe Ahrimans, in der Schwangerschaft noch immer peripherisch wirken. 

 

 „Zwar ist dieser Mensch, der aus Ich, Astralleib und Ätherleib (aber noch nicht aus einem physischen Leib) besteht, durchaus vom Moment der Empfängnis an in der Nähe der Mutter, die den befruchteten Menschenkeim in sich hat, aber er wirkt von außen ein.“(29, S. 55) 

Ich, Astralleib und Ätherleib leben und gestalten in und aus den Hüllorganen des Embryos und Fötus. 

 

Zu Medizinstudenten und jungen Ärzten sagte Rudolf Steiner im April 1924: 
„Dieses Physische im Embryo, das ist allerdings wunderbar ausgebildet, aber daran hat der vorirdische Mensch selbst zunächst den wenigsten Anteil. – Dagegen hat der Mensch, der vorirdische Mensch, den größten Anteil an alldem, was rund herum ist. Darinnen lebt der vorirdische Mensch, in dem, was im Physischen eigentlich abgebaut wird und als Abgebautes, als Chorion, Amnion und so weiter, mit der Nachgeburt abgeht. Da drinnen lebt der vorirdische Mensch.“ (30, S. 147) 

 

Auch gegenüber Theologen führte Steiner aus: 
„Die Keimesentwickelung wird, ich möchte sagen, nur unvollständig studiert. Es wird gewöhnlich nur so studiert, dass man bei der Keimzelle anfängt, bei der Bildung der Keimzelle, bei der Bildung der Keims
cheibe, kurz, man verfolgt die Evolution herauf von der ersten Keimzelle, die befruchtet ist, durch ihre Bildungsprodukte und so weiter bis zur Reife des Embryos, wo er dann ausgestoßen, das heißt, geboren wird. Aber man verfolgt nicht gleichzeitig dasjenige, was im Chorion, Amnion usw an Organen sich entwickelt im mütterlichen Leib, die um den Embryo herum sind, und die in ihrer Art am vollkommensten sind im Beginne der embryonalen Entwickelung, die immer komplizierter werden und dann abgestoßen werden bei der Geburt des Embryos. Wir haben es in demjenigen, was aus dem Keim herausgeht, durchaus zu tun mit einer aufsteigenden Evolution, und die Involution besteht dabei darin, daß das Geistig-Seelische von den Organen, in denen es sich zuerst festgesetzt hatte im mütterlichen Organismus, vom Chorion, vom Amnion, nach und nach dann übergeht zum eigentlichen Eikeim, zum eigentlichen Embryo, so daß wir haben eine Involution des Geistig-Seelischen im Materiellen. Das Materielle der Geburtshüllen wird letztendlich abgestoßen, und dann haben wir eine darauffolgende Evolution des Embryo.“(31, S. 256).

 

Die höheren Wesensglieder des Menschen gehen im Verlauf der Schwangerschaft „nach und nach“ auf den „eigentlichen Eikeim“ über – und die Individualität beginnt ab dem Ende der dritten postkonzeptionellen Woche in die physische Leibesentwicklung einzugreifen. Zu dieser Zeit setzt auch der embryonale Herzschlag ein, das heißt, die Tätigkeit jenes peripherisch-zentralen Organs, das wie kein anderes mit der menschlichen Individualität und ihrem Leibesschicksal verbunden ist (33). Anmerkung 3).

 

Zu Rudolf Steiners verschiedenen Schilderungen dieses Zeitpunkts vgl. (32, S. 691f.).

 

Trotz ihrer sukzessiven Verbindung mit der embryonalen Physis beherrschen aber die höheren Wesensglieder auch nach der dritten Schwangerschaftswoche in erster Linie noch immer die Hüllenorgane (und nicht den Keim) des Embryos. Hier, im Umraum des physischen Leibes, wird über die gesamte Schwangerschaft eine periphere Organisation aufrecht erhalten, deren kosmische Ausrichtung sich in der sphärischen Gestalt der Hüllen unübersehbar offenbart und die den Weg in die Gesetzmäßigkeiten der physischen Welt nur eingeschränkt mitgeht. Die plazentare Hülle macht deshalb nach der siebten postkonzeptionellen Woche, am Übergang der embryonalen zur fötalen Werdezeit, die zunehmenden Mineralisierungsprozesse und damit den ersten Ansatz zur späteren Knochenbildung nicht mit – so wenig, wie auch die sich zur selben Zeit ausbildende, polar orientierte Geschlechtsorganisation (34, S. 12f.). Das mit seinen höheren Wesensgliedern verbundene plazentare Umfeld des Kindes steht in Beziehung zur kosmischen Ausrichtung seines Wesens und seiner Herkunft; es hält sich daher von den Erdenkräften (bzw. der „Inanspruchnahme des Menschen durch das Irdische“) fern und übt seinen kosmischen Einfluss bis zur Geburt hin aus – bis zu jenem Moment, in dem das Kind auch physiologisch endgültig in den Erdenraum eintritt, selbständig zu atmen beginnt und damit in der physischen Welt ankommt. Vor seiner Geburt steht der Mensch noch „in der Hut“ der über dem Physischen stehenden Wesenheiten, er lebt und entwickelt sich in der geschützten Sphäre der Gebärmutter und unterliegt einer höheren Führung:


„Der mütterliche Uterus gibt die Stätte ab, wo dasjenige geschieht, was gegen die irdischen Kräfte geschützt ist. Sie müssen sich den mütterlichen Uterus als ein Organ vorstellen, welches den Raum abschließt, der die Wirkung der irdischen Einflüsse nicht hereinlässt, so dass der Raum ausgespart wird für kosmische Wirkungen. Wir haben einen Raum, der unmittelbar mit dem Kosmos in Verbindung steht, in dem sich kosmische Wirkungen abspielen.“(35, S. 121f.)

 

Diese uterine „Hut“ kann nach der Geburt nicht mehr in der vorherigen Weise fortgesetzt werden; sie geht aber zumindest teilweise auf den Sozialraum der Eltern über, in deren verantwortliches Sein (Näheres siehe Friedrich Kipp: Höherentwicklung und Menschwerdung. Stuttgart 1948, erweiterte Neuauflage unter dem Titel: Die Evolution des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit, Stuttgart 1980).

 

Die extraembryonale Organisation kommt als Plazenta, als Nachgeburt zur Welt und stirbt ab, wird zum „Leichnam“ des bisherigen, über neun Monate gelebten Lebens. Die Plazenta wurde deshalb in vielen spirituellen Hochkulturen mit Achtung und Würde behandelt und in ihrer geistigen Bedeutung gesehen, als Schutz und Helfer bzw. als Weggefährte des Kindes zur Erde, als – so die alttestamentliche Formulierung – „Bündlein der Lebendigen“(36), (34, S. 63).

 

Ihre gesonderte Bestattung wurde über lange Kulturzeiträume hinweg in ritueller Weise und mit personaler Würde ausgeführt; sie wurde als Wesensteil des Menschen und als Zeichen seiner Herkunft, seiner kosmischen Vorgeburtlichkeit gesehen. Wolfgang Schad, der auf diese Zusammenhänge immer wieder eindringlich aufmerksam gemacht hat, berichtet von einer ägyptischen Schieferdarstellung vom Ende des vierten Jahrtausend vor Christi Geburt, auf der dem Pharao bei einer Prozession seine mumifizierte Nachgeburt als Teil seiner Insignien vorangetragen wurde.

Repräsentierte der Pharao für das altägyptische Mysterien-verständnis den Sonnengott, so seine mumifizierte Plazenta die Geistigkeit des Mondes bzw. der Mondensphäre – seine Grabstätte bestand daher nicht selten aus zwei Pyramiden Dabei war das kleinere Südgrab für die mumifizierte Plazenta bestimmt, in der der göttliche Geist verehrt wurde (34, S. 63 und 74).

 

So lebte in alten Zeiten ein Wissen von der kosmischen Herkunft des Menschen, von seiner „Ungeborenheit“, die dem realen Übertritt in die Erdengemeinschaft vorangeht. 

 

Die weiterwirksame Ungeborenheit des Menschen

Die „Hauptaufmerksamkeit“, so Rudolf Steiner 1920, "ist in Zukunft auf die Gewahrwerdung dieser „verborgenen“, „übermenschlichen“ oder „göttlichen“ Dimension in der frühen Kindheitszeit zu richten.„Wir müssen gewissermaßen lernen, abzulauschen dem heranwachsenden Menschen die Offenbarung des Geistig-Seelischen, wie es war vor der Geburt oder vor der Empfängnis.“ (37, S. 75)

 

Es gehe darum, in dem heranwachsenden Kind in der ersten Zeit seiner Entwicklung auf Erden das Fortwirken einer kosmischen Seinsqualität wahrnehmen zu lernen, einen weiterhin wirksamen Aspekt seiner „Ungeborenheit“. Erzieher, Lehrer, Ärzte und andere Begleiter der Kinder sollten, so Steiner, innerlich bereit und in der Lage sein, „mit einer ungeheuren Ehrfurcht vor dem Kinde zu stehen und zu wissen: Da ist ein Göttlich-Geistiges auf die Erde heruntergestiegen“ (38, S. 19).

 

Dieses konkrete Wissen kann das Herz des Kindesbegleiters durchdringen und ihn zur Wahrnehmung seiner Aufgabe befähigen („darauf kommt es an ...“).

Aus Rudolf Steiners Forschungen folgt auch, dass im Kind in den ersten Jahren seines Erdenseins nicht nur die Kräfte der dritten Hierarchie weiterleben und seinen fundamentalen Entwicklungsschritten – aus der Geist- in die Erdenwelt „herüberwirkend“ – hilfreich beistehen; vielmehr führt das Kind in diesem Zeitraum in seiner ganzen Wesensverfassung, Lebensart und Geistigkeit bis zu einem gewissen Ausmaß fort, was ihm schon vor dem Eintritt in das Erdensein eigen war.

 

Am 12. August 1924 sagte Steiner dazu in England: 
„Vor dem Zahnwechsel ist an dem Kinde wirklich deutlich noch wahrzunehmen, wie dasjenige nachwirkt, richtig nachwirkt, was das Kind als Lebensgewohnheiten vor der Geburt, beziehungsweise vor der Konzeption in dem vorirdischen Leben in der geistigen Welt hatte. Der Körper des Kindes tut da fast so, als ob er Geist wäre; denn der Geist, der heruntergestiegen ist aus der geistigen Welt, ist noch voll tätig in dem Kinde in den ersten sieben Lebensjahren.“ (38, S. 15)

 

 

Die kosmischen „Lebensgewohnheiten“ des Kindes wirken in den ersten Lebensjahren weiter, in einer Entwicklungszeit, in der sein eigentliches Wesen noch gar nicht vollständig in den Leib eingezogen ist:

 

Diese Wesenheit mit den Erlebnissen, die geistig durchgemacht worden sind, steigt herunter, verbindet sich zunächst in einer losen Weise mit dem Physischen des Menschen während der Embryonalzeit und ist im Grunde genommen noch in loser Weise, gewissermaßen äußerlich als Aura den Menschen umschwebend, in dem ersten kindlichen Zeitalter zwischen der Geburt und dem Zahnwechsel noch gegenwärtig.“(39, S. 27) 

 

„Äußerlich als Aura den Menschen umschwebend“ ist die Individualität des Kindes dabei noch überaus aktiv. Die gewaltigen Entwicklungsschritte des aufrechten Ganges, des Sprechens und Denkens – sowie viele weitere Lebensprozesse und aktive Verwirklichungsformen des Kindes – urständen in diesem kosmisch-peripheren Kräftebereich und entspringen keinesfalls der zellulären Genetik oder anderen zentralen Strukturen. In „loser Weise“ mit dem Körper verbunden zu sein, heißt für die Wesenheit des Kindes noch empfänglich für die mithelfenden Wirkungen der Archai, der Archangeloi und der Angeloi zu sein – mit ihnen zusammen gelingt der Erwerb des aufrechten Ganges, der Sprache und des Denkens (4, S. 26f.). 

 

Seine noch ausgesprochen peripherische Orientierung, die als zeitlich befristete Endstrecke eines kosmisch-peripherischen Bewusstseins (und einer entsprechenden „Lebensgewohnheit“) verstanden werden kann, bedingt auch die besondere seelische „Offenheit“ des Kindes – und dies keineswegs nur im Hinblick auf die geistige Welt bzw. die in ihr wirksamen Hierarchien, sondern auch in der intensiven frühen Wahrnehmungs- und Nachahmungstätigkeit des Kindesalters. 

 

Über den spirituellen Hintergrund dieser intensiven, frühen Wahrnehmungs- und Nachahmungsfähigkeit des Kindes für die es umgebende Sinneswelt sagte Rudolf Steiner: 
Durch den ganzen Organismus rieselt dasjenige, was an Eindrücken aus der Umgebung kommt, klingt nach, tönt nach, weil das Kind noch nicht so innig wie der Mensch 
später mit seinem Körper verbunden ist, sondern noch in dessen Umgebung lebt mit seinem loseren Geistig-Seelischen. Daher wird alles aufgenommen, was an Eindrücken aus dieser Umgebung kommt.“ (39, S. 28)

 

Die „leiblich-religiöse“ Hingabe an die Umgebung in den ersten Kindheitsjahren, das hingabevolle Leben desKindes im Umraum, ist Ausdruck seiner besonderen Wesensgliederkonfiguration, die noch ganz der menschlichen Sinnesorganisation entspricht (40, S. 41f.) und hat mit seinen vorgeburtlichen vorkonzeptionellen „Lebensgewohnheiten“, dem Modus des Lebens in der geistig-kosmischen Welt zu tun. Diese kosmische „Lebensgewohnheit“ oder „Lebensart“ beschrieb Rudolf Steiner an anderer Stelle als eine Form des „Einsseins mit der Umgebung“ oder einer „intuitiven“ Daseinsverfassung, die kennzeichnend für das letzte Drittel der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt ist: 

 

„Intuitionen bestehen ja gerade darin, dass der Mensch sich mit seinem Selbst, seinem Seelischen, in andere Wesenheiten versetzt.“ (41, S. 283) 

Das „Sich-Ver-setzen ins andere Leben“ kennzeichnet auch die Bewusstseinsverfassung und den Lebensvollzug der vorgeburtlichen menschlichen Individualität im Kosmos vor dem Beginn der Inkarnation – ebenso wie andererseits die Daseinsgestalt und -haltung des kleinen Kindes: „Es muss das tun, was andere tun, nicht was aus ihm selbst hervorgeht, sondern imitierend, nachahmend wird getan, was der andere tut.“ (41).


Die Nachahmungsfähigkeit des Kindes ist demnach ein Nachklang seines geistigen Seins und Erlebens in der geistigen Welt, ein Nachklang seiner „Ungeborenheit“. Mit dieser Verfassung und Gestimmtheit – oder zumindest einer machtvollen Kraft aus diesem Bereich – tritt es seinen Lebenslauf im Erdenbereich an, voller Vertrauen und Hingabe. Diese vertrauensvolle Hingabe kann jedoch getäuscht und auch missbraucht werden, vom Ausgeliefertsein an eine Konsum- und Medienwelt bis hin zu den Tragödien der frühkindlichen Traumatisierung, des Missbrauches der Kinder auf allen Ebenen:

 

„Das Kind spricht, so wie es als nachahmendes Geschöpf in die Welt hereintritt, gewissermaßen überall das Urteil aus: Ich glaube an die Güte der Welt, die mich aufgenommen hat. Das ist ein unbewusstes Urteil des Kindes.“ (42, S. 228).

 

Die Ungeborenheit des Menschen und ihre Bedrohung

Die gegenwärtigen Bedrohungen am Tor der Konzeption und Geburt – und nicht nur diejenigen der frühen Kindheit – werden nun evident und erkennbar: Nach Schätzungen der WHO entschloss sich bereits 2011 etwa ein Fünftel aller schwangeren Frauen zu einem Abbruch der Schwangerschaft – und die Zahlen steigen angesichts der sich ausweitenden pränatalen Screening-Möglichkeiten immer noch an.

 

Auf der anderen, dazu polaren Seite „boomt“ die Häufigkeit der In-vitro-Fertilisationen im Diktat ihrer Machbarkeit. Die mit ihr verbundenen ethischen Herausforderungen, Schwierigkeiten und Abgründe müssen weithin noch bekannter werden, denn sie reichen bis hin zur Selektion der Embryonen nach morphologischen Güteklassen. Soziokulturelle und psychische Probleme, wie die der Kinderlosigkeit oder „Unfruchtbarkeit“, werden technologisch „gelöst“ –  mit Entgrenzungen, die vor Jahrzehnten noch undenkbar waren. Die Frage nach der „Ungeborenheit“, nach der Würde und dem Recht des Kindes respektive der die Inkarnation wollenden Individualität, wird gemeinhin gar nicht gestellt, weder bei den selektiven Schwangerschaftsabbrüchen noch bei der technisch "gemachten" Gravidität. Die Medizin und die um sich greifende Biotechnik stehen vielmehr in der Gefahr, zu funktionellen Erfüllungsgehilfen gesamtgesellschaftlicher Normen zu werden. Und dies auch dort, wo sich zivilisatorische Erwartungs- und Anspruchshaltungen im einzelnen Menschen artikulieren und damit (ein sehr fraglicher) Ausdruck individuellen Wollens sind – bis hin zum „Social Egg Freezing“, einem Verfahren, das Frauen verspricht, die Reproduktion (zur optimalen Biografie- und Karriereplanung) zeitlich in den Griff zu bekommen, was aber zugleich sehr trivialen Wirtschaftsinteressen entspricht. Die „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross) weitet sich aus und diktiert das Geschehen. Und auch die pränatale Diagnostik nicht krankheitsrelevanter, aber gesamtgesellschaftlich erwünschter oder unerwünschter Merkmale – mit nachfolgender Intervention – ist längst keine Orwell-Fantasie mehr, sondern medizinische Wirklichkeit. Der Soziologe Luc Boltanski spricht vom „projektgebundenen Kind“ in einer „projektbasierten Gesellschaft“, die alles zu bestimmen sucht, nicht nur den Zeitpunkt und die Schmerzfreiheit der „kontrollierten“, nichtnatürlichen Geburt (die am Ende das einzig akzeptierte Verfahren sein soll und in manchen Ländern schon nahezu ist), sondern auch das Sein des Kindes – sein Sein überhaupt, aber auch sein So-Sein. 

 

„Wenn wir noch einmal zusammenkommen, werde ich Ihnen erzählen, wie die ahrimanischen Mächte darauf aus sind, das Karma des Menschen totzuschlagen, damit sie ihr Ziel erreichen“, sagte Rudolf Steiner zu den Medizinstudenten und Ärzten im April 1924 (30, S. 204). Er kam nicht noch einmal mit ihnen zusammen, aber dasjenige, was er ihnen schildern wollte, erlebten und erleben wir alle. „Wehe der Menschenwelt, wenn ihr Werden gestört wird!“, steht warnend bei Matthäus 18,7 (43, S. 44f.), (4, S. 50f.)

 

Von der Erdenzukunft des „Göttergeschöpfes Mensch“ 

Rudolf Steiners Darstellungen zur Ungeborenheit, zum kosmischen Dasein der Individualität vor Eintritt in das Erdensein, aber auch zur Embryonal-, Fötal- und frühkindlichen Entwicklung wirken vor dem Hintergrund zeitgenössischer Denkmuster und Verhaltensformen, Technologien und Interventionen archaisch – sind aber ultramodern und hochaktuell. Sie sind ein radikaler Gegenwurf zur Gegenwartskultur und wurden von Steiner auch als solcher formuliert, im vollen Bewusstsein der bereits angebrochenen Entwicklungen. Kennt man die modernen medizinisch-ethischen Debatten im Spannungsfeld von Konzeption und Geburt, die zum Teil auf hohem Reflexionsniveau geführt werden und die Abgründe der modernen Biotechnologie (und der von ihr abhängigen Medizin) detailliert, so erfährt man Steiners anthroposophische Menschenkunde als notwendige Ergänzung (44, S. 20). Die wissenschaftliche und gesamtgesellschaftliche Erschließung, Vertretung und Umsetzung dieser realen Menschenkunde gehört zu den spirituellen Kernaufgaben der anthroposophischen Ärzteschaft der Gegenwart und Zukunft; ein Versäumen oder Negieren solcher Bemühungen dagegen gehört in den Bereich der „unterlassenen Hilfeleistung“ – im gesamtzivilisatorischen Maßstab. 

 

Es gibt einen wenig bekannten mantrischen Spruch Rudolf Steiners (45, S. 315), (4, S. 54f.), der von der Leibbildung des Menschen aus den Kräften der göttlichen Trinität handelt, in deren Wirksamkeit der Mensch verantwortlich einbezogen ist. Er ist gefragt oder zur Mithilfe „angerufen“ (Martin Buber), als Mediziner, Therapeut und Erzieher, heute mehr denn je zuvor:

 

 

Von den Höhen wirkendes Geistgestirn
In dem Umkreis schaffende Sonnenmacht

Aus den Tiefen strebende Gottgewalt

Schenken dem Menschenkeime
Segnend, heilend, belebend
Des Leibes Tempelbau. 

 

Aus frei waltendem Geisteslicht
In Liebe spendender Seelenkraft
Durch Treue geheiligten Opferwillen

Schafft der Mensch dem Menschenkinde

 

Des Leibes Nahrung
Der Seele Werden
Die Erdenzukunft dem Göttergeschöpf. 

 

Welten opfern
Geister segnen
Ich-Wille wirket
Heil dem Geist-gesegneten

Wort-belebten Gott-geborenen Menschensohn. 

 

Rudolf Steiner: Wahrspruchworte, GA 40 

 

 

 

Literatur

1. Steiner R. Der innere Aspekt des sozialen Rätsels. GA 193. 5. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 2007. 

2. Steiner R. Die Mission der neuen Geistesoffenbarung. GA 127. 2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989. 

3. Steiner R. Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit. GA 15. 10. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag;1987. 

4. Selg P. Kindheit und Christuswesen. Von der therapeutischen Haltung im Angesicht der Bedrohung. Arlesheim: Verlag des Ita Wegman Instituts; 2015.

5. Steiner R. Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen. GA 192. 2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1991. 

6. Morgenstern C. Werke und Briefe. Kommentierte Stuttgarter Ausgabe (StA). Band I. Lyrik1887–1905. Hg. Martin Kießig. Stuttgart: Verlag Urachhaus;1988. 

7. Steiner R. Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken. GA 335. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 2005. 

8. Selg P. Der Wille zur Zukunft. Arlesheim: Verlag des Ita Wegman Instituts; 2011.

9. Steiner R. Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus. GA 218. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1992. 

10. Steiner R. Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten. GA 224. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1992. 

11. Steiner R. Menschenwesen, Menschenschicksal und Welt-Entwicklung. GA 226. 5. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag;1988. 

12. Steiner R. Drei Schritte der Anthroposophie. Philosophie –Kosmologie – Religion. GA 25. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1999. 

13. Selg P. Ungeborenheit. Die Präexistenz des Menschen und der Weg zur Geburt. 3. Aufl. Arlesheim: Verlag des Ita Wegman Instituts; 2013.

14. Steiner R. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusam-menhänge. Erster Band. GA 235.8. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1994.

15. Steiner R. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusam-menhänge. Fünfter Band. GA 239. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1985.

16. Steiner R. Theosophie. GA 9.32. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 2003.

17. Steiner R. Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia. GA 202. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1993.

18. Steiner R. Vorstufen zum Mysterium von Golgatha. GA 152.3. Aufl. Dornach: Rudolf SteinerVerlag; 1990. 

19. Prokofieff SO. Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 1982.

20 Prokofieff SO. Der esoterische Weg durch die neunzehn Klassenstunden im Lichte des übersinnlichen Mysteriums von Golgatha und des Fünften Evangeliums. Dornach: Verlag am Goetheanum; 2014.

21. Selg P. Die Leiden der nathanischen Seele. Anthroposophische Christologie am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Arlesheim: Verlag des Ita Wegman Instituts; 2014. 

22- Steiner R. Vergangenheits-und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen. Die geistigen Hintergründe der sozialen Frage, Band II. GA 190. Vortrag vom 23.03.1919. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1980.

23. Steiner R. Die Erziehungsfrage als soziale Frage. Die spiri-tuellen, kulturgeschichtlichenund sozialen Hintergründe der Waldorfschul-Pädagogik. GA 296. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1991.

24. Selg P. Rudolf Steiner. 1861–1925. Lebens- und Werkgeschichte. Zweiter Band. Arlesheim: Verlag des Ita Wegman Instituts; 2012.

25. Steiner R. Vor dem Tore der Theosophie. GA 95. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1990.

26. Steiner R. Grundelemente der Esoterik. GA 93a. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1987.

27. Steiner, R. Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie. GA 215. 2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1980.

28. Steiner R. Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. GA 211. 3. Aufl.Dornach: Rudolf Steiner Verlag;2006.

29. Steiner R. Die Theosophie des Rosenkreuzers. GA 99. 7. Aufl.Dornach: Rudolf Steiner Verlag;1985.

30. Steiner R. Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst. GA 316.5. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 2008.

31. Steiner R. Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken II. GA 343. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1993.

32. Selg P. Vom Logos menschlicher Physis. Die Entfaltung einer anthroposophischen Humanphysiologie im Werk Rudolf Steiners. Studienausgabe. 2. Band.Dornach: Verlag am Goetheanum; 2006.

33 Selg P. Mysterium cordis. Von der Mysterienstätte des Men-schenherzens. Aristoteles. Thomas von Aquin. Rudolf Steiner. 2. Aufl. Dornach: Verlag am Goetheanum; 2006.

34. Schad W (Hg). Die verlorene Hälfte des Menschen. Die Plazenta vor und nach der Geburt in Medizin, Anthroposophie und Ethnologie. 3. Aufl. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2016.

35. Steiner R. Heilpädagogischer Kurs. 8. Aufl. GA 317. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1995.

36. 5. Mose 28,57 und 1. Samuel 25,29.

37. Steiner R. Die Erziehungsfrage als soziale Frage. Die spiri-tuellen, kulturgeschichtlichen und sozialen Hintergründe der Waldorfschul-Pädagogik. GA 296. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1991.

38. Steiner R. Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit. GA 311. 5. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag;1989.

39. Steiner R. Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedin-gungen des Erziehens. GA 308. 5. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1986.

40. Selg P. Das Kind als Sinnes-Organ. Zum anthroposophischen Verständnis der Nachahmungsprozesse. Arlesheim: Verlag des Ita Wegman Instituts; 2015.

41. Steiner R. Mitteleuropa zwischen Ost und West. GA 174a. 2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1982.

42. Steiner R. Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft. GA 301. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1991.

43. Ogilvie H (Übersetzer). Das Neue Testament. Stuttgart: Verlag Urachhaus; 1996.

44. Maio G. Forschung mit Embryonen und Stammzellforschung. Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Schattauer Verlag; 2012.

45. Steiner R. Wahrspruchworte. GA 40. 9. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 2005.