Heileurythmie

Heileurythmie

In der Eurythmie kommt unmittelbar ein Geistig- Seelisches zum Vorschein, das den gesamten Bewegungsorganismus des Menschen durchseelt und durchgeistigt. Sie nimmt das zum Ausgangspunkt, was sich der Mensch kollektiv im Laufe der Menschheitsentwicklung 

als ein Geistig-Seelisches durch die Sprache erarbeitet hat. 

In der äußeren, naturwissenschaftlichen Paläo-Anthropologie ist darüber erst sehr wenig bekannt, aber immerhin weiß man inzwischen, dass die geistige und soziale Entwicklung der Menschheit überhaupt erst dadurch ihren Sonderweg innerhalb der Natur einschlagen konnte, dass die Menschheit sich den aufrechten Gang errungen hat. Vor etwa 12 Millionen Jahren war nach heutigem Wissen die Umgestaltung der Füße, der Beine und der Wirbelsäule im Dienste des aufrechten Ganges so weit fortgeschritten, dass man aus diesen Veränderungen erstmalig  die Diagnose "Mensch" stellen konnte: Jetzt waren die Großzehen dem Fuß angelegt, konnten also nicht mehr wie noch heute bei den Großaffen zum Greifen mit den Füßen benutzt werden, und der Mensch lernte nicht nur aufrecht zu Gehen, sondern auch stille zu Stehen, weil das Fußgewölbe nach hinten durch ein massives Fersenbein abgeschlossen wurde, das den Großaffen bis heute noch ebenso fehlt, wie das Fußgewölbe insgesamt. Die Knie standen nun auch nicht mehr wie noch heute bei den Affen senkrecht unter den Hüftgelenken, sondern in einem bis heute für den Menschen typischen, unverwechselbaren Winkel, und die Wirbelsäule erhielt erstmalig ihre bis heute für den Menschen einmalige Doppelkrümmung, durch die der Kopf nicht mehr an der Wirbelsäule hängend, sondern erstmalig wie auf ihr federnd und frei gewissermaßen "reitend" getragen werden kann.

                  Dennoch dauerte es noch etwa  Fünf Millionen Jahre nach der Aufrichtung, bis sich die Hirnentwicklung beschleunigte, so dass sich aus dem aufrecht gehenden und stehenden nun auch ein entsprechend großhirniger Mensch entwickelte. Was war aber der Anlass zu dieser nun relativ plötzlich einsetzenden Hirnvergrößerung zu Beginn der letzten zwei Millionen Jahre der Menschheitsentwicklung?

 

Dem wissenschaftlichen Laien mag die nun folgende Begründung nahezu an den Haaren herbeigezogen erscheinen, für die Fachwelt aber ist es  sonnenklar: Der Anlass zu der bis heute so charakteristischen Hirnvergrößerung des Menschen war die Sprachentwicklung, die nicht etwa mit der Vergrößerung des Gehirnes, sondern mit der Umbildung der Zähne vom Allesfresser- zum Sprachgebiss, die sich ihrerseits der Befreiung der Arme aus dem Dienst an der Fortbewegung verdankt!

Der Fachmann versteht unter "Sprachgebiss" eine Bezahnung, bei der alle Zähne gleich hoch sind, so dass sie eine durchgehende Kante bilden, ohne die wir unmöglich "S","T", "ST","Z", "F", "X" oder "C" sprechen könnten, aber auch beim Sprechen des rollenden "R", des "P", "B", "N", und "L" erhebliche Schwierigkeiten hätten. 

 

Erst dadurch, dass der Mensch sich aufrichtete und ein Sprachgebiss bekam, wurde ihm möglich, beim Sprechen nicht nur "A", "E", "I", "O" und "U", also seine innere Gefühlswelt auszudrücken, sondern auch die oben genannten Konsonanten. Dadurch kam er in die Lage, auch von Dingen zu sprechen, die außerhalb seiner selbst, zum Beispiel in der äußeren Natur vorhanden sind. Während also die Gesamtheit der Vokale ideal zum Mitteilen der inneren Gefühle, also des seelischen Empfindens geeignet ist, können wir mittels der Konsonanten auch von Dingen sprechen, die außerhalb unserer Gefühlswelt liegen, also geistig sind! - Wenn wir beim Sprechen über die äußere Natur auch Vokale verwenden, dann steht dies nicht im Widerspruch zum gerade gesagten, sondern ergänzt es: Wie der Impressionist, der in einem Landschaftsgemälde seine Empfindungen, Stimmungen und Gefühle dadurch zum Ausdruck bringt, dass er Farben verwendet, so drücken wir unsere Gefühle hinsichtlich der äußeren Natur, aber auch der sozialen Prozesse dadurch aus, dass wir nicht nur die natürlichen Prozesse mit unseren Konsonanten wiederholen, zum Beispiel dann, wenn wir "K" benutzen, um das "Knacken" eines trockenen Zweiges oder die Härte einer "Kante" wiederzugeben, sondern auch unsere Furcht in dem "U" hinzufügen, wenn wir über den Anblick einer tiefen und rauhen "Schlucht" oder die "Wucht" eines großen Steines berichten, mit der dieser den Berg herabrollend unten auf den Talgrund aufschlägt. 

 

Welche kulturellen Veränderungen waren aber die Voraussetzung zur Bildung des Sprachgebisses? Hier kommt vor allem der Einbezug der Arme in die Menschheitskultur für das Entwickeln einer Technologie der Nahrungszubereitung in Betracht, also ein ökologischer Umschwung: Nur durch Wärmebehandlung, sprich: Kochen, Backen und Braten, konnte die Nahrung so verfeinert werden, dass zu ihrem Genuss das brutale Allesfresser-Gebiss der Affen entbehrlich wurde und durch das sehr viel grazilere Sprachgebiss des Homo sapiens, des "wissenden"  Menschen ersetzt werden konnte!

 

Wir haben also die ganze Menschheitsentwicklung der letzten 12 Millionen Jahre mit ihren vielfältigen Umwandlungen der Gliedmaßen und der Wirbelsäule genauso in die Betrachtung der Sprachfähigkeit des Menschen einzubeziehen, wie schließlich die Entwicklung der Ernährungs-Technologie, die im Kochen, Braten und Backen entbehrlich machte, was das Gebiss des Frühmenschen an physischer Kraft noch entfalten musste. Erst seitdem die Wissenschaft diese Entwicklungstatsachen der menschlichen Frühentwicklung zur Kenntnis genommen hat, können wir wirklich ermessen, warum nicht die Gehirnentwicklung, sondern die Aufrichtung der menschlichen Gestalt und die Befreiung des Gebisses für die Entwicklung und den Gebrauch der Sprache die ersten Schritte der Menschwerdung waren und welche Bedeutung die Sprache für die Gestaltung des menschlichen Organismus hat.

 

Was tun wir also, wenn wir sprechen?

Im Sprechen übertragen wir unser seelisches und geistiges Inneres auf den Atemstrom und die Bewegungen der Sprachorgane, um sie unseren Mitmenschen hörbar zu machen. Später kam noch die Schrift hinzu. Insofern überführt das Sprechen und Schreiben unser Vorstellen und unser Fühlen in eine Bewegung, die von Mensch zu Mensch führt, also in eine willentliche Beherrschung des Körpers durch die Seele und den Geist, die diesen Körper zum Werkzeug der Kommunikation und damit zum Werkzeug der Kultur macht.

 

In der Heileurythmie setzen wir diese Richtung des Beherrschens des Körpers durch die Seele und den Geist im Prozess der Selbstheilung fort, auf dass der innere Mensch den äußeren Menschen durch und durch frei und beweglich mache. Was wir in der frühen Kindheit schon zu lernen beginnen, und in der mittleren Kindheit, also vom Schuleintritt bis zur Pubertät, zu einer gewissen, vorläufigen Vollendung bringen, den Ausdruck der Gefühle und Gedanken in den Sprachlauten und im Schreiben und was wir den anderen Menschen mitteilen und von ihnen entgegennehmen, das wird in der Heil-Eurythmie auf den ganzen beweglichen Organismus, besonders aber auf die Arme, Beine, Füße und die Wirbelsäule übertragen.

 

Indem wir dies Art der Kommunikation täglich üben, wird unsere Seele erst zum eigentlichen Herren des Körpers im Wollen. So können wir durch Heileurythmie ausgleichen, was unser Intellekt durch seine Kritik und seine Abstraktheit in die Erlahmung des Willens, wenn nicht sogar in die Erstarrung unserer Phantasien und Gedanken führt .