Psychische Störungen erkennen, verstehen und heilen: Was ist anthroposophische Psychotherapie?

 

"Lieber ein Problem, als ein Theorem!" - sagt Goethe und meint damit: Lieber eine Frage, als ein Glaubenssatz. Ein Problem ist eine konkrete Aufgabe, die mir das Leben stellt, und kann unmittelbar angegangen werden. Ein Theorem hingegen ist ein geistiger Knoten, den entweder ich selbst oder ein anderer Mensch hervorgebracht hat, der das eigentliche Problem versteckt. Dieser Knoten muss erst entwirrt werden, bevor man das Problem, das er verbirgt, angehen kann.

 

In diesem Absatz möchte ich das Problem der Theorien-Bildung in der Psychiatrie besprechen, das besonders spezifisch die Menschen mit Depressionen betrifft, weil Depressionen im Unterschied zu den meisten anderen psychischen Störungen niemandem schaden, außer demjenigen, der sie hat. 

 

Insofern sind Menschen mit Depressionen in ganz besonderem Masse betroffen von der Theoriebildung in der Medizin, weil diese Menschen durch Theoriebildung stärker beeinflusst werden als andere, wohingegen sein Leid niemand anderen schädigt.

 

Der Mensch, der diese Seite besucht, möchte gerne wissen, was mit ihm los ist. Um mir seine Fragen zu stellen, müsste er in meine Sprechstunde kommen, denn ohne seinen Besuch kann ich nicht sagen, was mit ihm los ist.

 

Die hier niedergeschriebenen Worte sollen den Besuch in meiner Sprechstunde nicht ersetzen, aber sie können den allgemeinen Zusammenhang erläutern, in dem ich die psychischen Störungen sehe. So lassen sich schon vorab bestimmte Versuche der Selbst- oder  besser einschätzen, zB die Selbstheilungsversuche mittels einer Zufuhr von Drogen oder Alkohol, oder die Fremdheilungsversuche nach akademisch standardisierten Verfahren, die eine Gabe so genannter Psychopharmaka mit einschließen, aber oft das Problem mehr verdecken, als für seine Bearbeitung günstig ist.

 

Merke:

 

Psychische Störungen werden heute von den meisten Menschen mehr gefürchtet als körperliche Krankheiten, weil sie als Stigma wirken.

 

Dies ist so, weil die menschliche Gesellschaft sich mit dem Feststellen und Bekanntmachen psychischer Störungen anmaßt, dem Einzelnen seine moralische Kompetenz und damit die Würde der freien Persönlichkeit absprechen zu können.

 

leider ist wenig bekannt, dass beide, moralische Kompetenz und Freiheit der Persönlichkeit, unmittelbar zusammengehören: Ohne Freiheit keine Moral! 

 

Denn wer nicht frei ist, ist auch nicht verantwortlich für sein Tun!

Tiere z.B. haben nur ihre Instinkte, Triebe und Begierden, und insofern auch keine Fantasie. Sie könnten sich nie eine freie Handlung ausdenken, und haben insofern keinerlei moralische Verantwortung. Der Mensch hingegen muss seinen eigenen Weg finden, und davon handelt alle Psychotherapie, nämlich vom Weg zur Freiheit!

Einerseits gibt es die standardisierte Differentialdiagnose der psychischen Störungen (z.B. den ICD-10, oder den DSM-5). ICD-10 und DSM-5 sind moderne Versuche, Ordnung in das Wirrwarr der psychischen Störungen zu bringen. Ich werde in der nächsten Zeit versuchen, diese Ordnung auch meinen Patienten zugänglich, d.h. verständlich zu machen.

 

Die fachgerechte Differentialdiagnose ist notwendig, um eine Lebensgefährdung einzelner Patienten durch ihre psychische Störung rechtzeitig zu erkennen. 

 

In den ältesten, noch theokratischen (also nach den Gesichtspunkten der einer Religion gestalteten) Menschengesellschaften wurden psychische Störungen für heilig, d.h. für gottgewollt gehalten. So erhielt z.B. die Epilepsie den Namen „Morbus sacer“ (zu Deutsch:“ heilige Krankheit“), weil epileptische Anfälle nicht nur mit Krämpfen, sondern zumeist auch einer kompletten Ohnmacht (dies ist typisch für die Grand-Mal-Epilepsie), oder mit einer Trübung und teilweisen Einschränkung des Bewusstseins (dies ist typisch für die Petit-Mal-Epilepsien) einhergehen. In den Zeiten der frühen Menschheit wurden die psychischen Störungen noch stärker beachtet als heute und als die „eigentlichen“ Merkmale des Krankseins angesehen.

 

Im klassischen Altertum der Griechen und Römer begann sich die Gesellschaft zur „Demokratie“ (also zur Herrschaft eines individuellen Menschenverstandes) zu entwickeln, obwohl die Zentralregierung, z.B. der Senat von Athen, diese Entwicklung zum Individualismus bekämpfte. Dieser  erreichte dennoch in der hohen Kunst des Sokrates, Fragen zu stellen, einen ersten Höhepunkt und wurde durch Jesus Christus zum Kultur-Standard gemacht durch den Satz: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!".

 

Doch die Fragekunst des Sokrates hatte noch einen zweiten Gegner: In jenen Zeiten war ein eigentlich schon dekadentes Hilfsmittel noch in Gebrauch, das seine quasi "göttliche" Autorität aus der Trance bezog, die durch Drogen eine künstliche Bewusstseinsverschiebung erzeugt. So wurde für die Beilegung großer gesellschaftlicher Konflikte, z.B. auch zur Vermeidung von Kriegen, das „Orakel“ von Delphi befragt: Eine delphische Priesterin, die so genannte „Pythia“, atmete vulkanische Dämpfe aus einer Felsspalte des Parnass, dem so genannten „Python“ ein, bis sie in Trance verfiel und ihre Konfliktlösungen in der Form rätselhafter, vieldeutiger Orakelsprüche abgab, deren Wahrheitsgehalt zumeist, wenn überhaupt, erst lange Zeit danach zum Vorschein kam.

 

Dekadent waren die Trancetechniken von Delphi, weil sie die individuelle Urteilsfähigkeit des Wahrheitssuchers durch Manipulation der physischen Gehirn-Funktionen so herablähmten, dass dieselbe unter das Niveau absank, das durch die allgemeine Verbreitung der sokratischen Fragekunst erreichbar gewesen wäre.

 

Den Rückfall in evolutiv ältere Bewusstseinszustände kann man als "Atavismus" bezeichnen und diesen Ausdruck auch zur Kritik des heutigen Drogen-Gebrauches verwenden, der zumeist von Menschen propagiert wird, die sich für besonders "progressiv" halten.

 

Was ist der Gebrauch von Drogen seinem Wesen nach? Er soll den Willen zur Wahrheit stärken, schwächt aber zugleich die Urteilsfähigkeit. Diese letztere ist die Grundlage der Autonomie der freien Persönlichkeit. Der Schuss geht also nach hinten los.

 

Naturalismus nennt man die Weltanschauung, die alles Psychische als das Ergebnis physikalisch-chemischer Vorgänge zu erklären sucht. 

 

Pablo Picasso bevorzugte die Stimmigkeit des modernen Künstlers mit sich selbst gegenüber dem bloßen Kopieren der bereits vorhandenen gesellschaftlichen Normen und forderte unseren Mut zur Heilung heraus:

 

Ich suche nicht – ich finde.

 

Suchen - das ist Ausgehen von alten Beständen

und ein Finden-Wollen  von bereits Bekanntem im Neuen.

Finden - das ist das völlig Neue! Das Neue auch in der Bewegung.

 

Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt.

Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer!

 

Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen,

die in die Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden,

die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen,

die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht

- menschlich beschränkt und eingeengt - das Ziel bestimmen.

 

Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen:

Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen,

der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins

im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.

 

Pablo Picasso