Wie berechtigt ist es, das Herz als die Grundlage des Gefühlslebens des Menschen zu bezeichnen?

Die obige Abbldung zeigt das Herz in volkstümlicher Darstellung, deren Wahrheitsgehalt mir bis jetzt ein Rätsel war, nun aber nicht mehr. Was ist passiert?

Heute, am Sonntag. dem 6.Dezember 2020, zeigte mir meine Frau einen Brief Ihres Sohnes aus erster Ehe, der alle zärtlichen Gefühle der Liebe und Zuneigung des Sohnes zu seiner Mutter offenbart, derer er fähig war zum Anlass ihres Geburtstages. Dazu hatte er ein riesiges rotes Herzsymbol auf der Mitte der ersten Seite seines zweiseitigen Briefes, quer über seinen gestochen schön  geschriebenen Text gemalt, das ich leider hier nicht wiedergeben kann, da ich befürchten muss, dass der ja sehr intime Text des Briefes mit zur Darstellung vor der Öffentlichkeit kommt. 

Beim Anblick dieser Zeichnung, die ich als solche ja schon tausende Male gesehen habe, wurde mir schlagartig der Wahrheitsgehalt dieses Bildes oder auch Sinn-Bildes klar, so dass ich unmittelbar beschloss, in erzählender Form über diesen Wahrheitsgehalt zu schreiben, der allerdings nur dann wahrnehmbar wird, wenn man alle seine psychologischen, physiologischen, anatomischen und philosophischen Bedeutungen  gleichzeitig im Auge behält.

 

Im heute üblichen Begriff von Wissenschaftlichkeit ist das oben genannte Verfahren, alle psychologischen, physiologischen, anatomischen und philosophischen Bedeutungen eines Begriffes gleichzeitig darzustellen, unmöglich, da das Ideal heutiger Wissenschaftlichkeit gerade umgekehrt darin besteht, definitorisch vorzugehen, das heißt, alle Mehrdeutigkeit so inbrünstig zu vermeiden, wie der Teufel das Weihwasser meidet.

 

Mir soll es aber hier nicht darauf ankommen, das heute übliche definitorische Wissenschaftsverfahren zu kritisieren, nicht einmal darauf kommt es mir an, es zu verurteilen, sondern statt dessen ist mir wichtig, in erzählender Form darzustellen, wie man dazu gelangen kann, die Wahrheit hinter der volkstümlichen Auffassung der psychologischen Bedeutung des Herzens für den Menschen und die Wahrheit hinter der volkstümlichen Auffassung von der Gestalt und Farbe des menschlichen Herzens zu suchen.

Wenn man nun dieses volkstümliche Bild des menschlichen Herzens vor dem Hintergrund der Dreigliederung des menschlichen Organismus und des menschlichen Seelenlebens betrachtet, so wird deutlich: 

Das Herz wird als organoide, das heißt, überwiegend rundliche Gestalt gesehen, die in der Rundung die Einheit sucht, aber nicht durchwegs. Von der überwiegend rundlichen Gestalt des menschlichen Herzens weicht das volkstümliche Herzsymbol in zweierlei Hinsicht ab: Nach unten, nach dem Bauch des Menschen hin, bildet das Herz in dieser volkstümlichen Auffassung  eine scharfe Spitze; nach oben, also dem menschlichen Kopfe zu, bildet es eine zweifache rundliche Aufwölbung, man auch sagen <kuppelform, die sich aber weder nach links noch nach rechts stärker, sondern mehr oder weniger symmetrisch in der Form zweier Kuppeln  aufwölbt.  

Im Vergleich dazu scheint die schon erwähnte, abwärts gerichtete, einfache Spitze des Herzens möglicherweise stärker nach links abzuweichen, also nicht durchwegs symmetrisch zu sein.

(Wir behalten diese Besonderheit im Gedächtnis für den Fall, dass uns dazu noch eine Frage aufblitzt).

Das Herz ist also in seiner bauchigen Mitte nahezu rund und insofern undynamisch, wohingegen ein sehr deutlicher Unterschied nach oben und nach unten auffällt.

Wie erklärt sich dieser Unterschied?

Fasst man das soeben beschriebene Bild als ein Symbol für die Stellung des Herzens zwischen dem Nerven- und dem Stoffwechsel- Gliedmaßensystem auf, so kommen uns die folgenden Tatsachen zu Hilfe: Auch das leibliche Zentrum des Nerven-Sinnessystems, der Kopf, ist nahezu kugelrund, insbesondere aber die beiden Augen mit den das gesamte Erscheinungsbild des Kopfes prägenden Augenhöhlen. Das Gliedmaßen-Stoffwechselsystem ist hingegen nicht durch Rundungen, sondern durch Streckungen gekennzeichnet. Dass die Arme und noch mehr die Beine eine gestreckte Gestalt haben, ist sehr offensichtlich, wohingegen die Gestalt des Bauches uns doch noch ein wenig  irritiert, insofern uns ein besonderes Merkmal des Bauches gerade seine Rundung zu sein scheint. Doch dieser Schein ist trügerisch: Schon die Speiseröhre verläuft kerzengerade und senkrecht nach unten, und der 15-20m lange Darm ist ein einziges Rohr, das allerdings, und das geben wir gerne zu, in der Bauchhöhle wie ein langes Stromkabel zusammengerollt untergebracht ist. Sieht man aber von dieser platzsparenden Zusammenrollung ab, so ist mit dem Darmrohr im Ganzen dieselbe Streckung nach unten wiederzufinden, die auch die Beine kennzeichnet. 

Soweit haben wir nun aber den ganzen in drei Funktionsbereiche  gegliederten physischen Menschenleib vor uns und können uns von dort aus der seelischen Dreigliederung zuwenden, die bereits im 19. Jahrhundert durch Johann Nikolaus Tetens entdeckt wurde, und als die Gliederung des Seelenlebens in Vorstellen, Fühlen und Wollen selbst von dem Skeptiker Immanuel Kant als korrekt anerkannt wurde.

Wie drücken sich nun die drei Kräfte des Seelenlebens, das Vorstellen, das Fühlen und das Wollen in der volkstümlichen Gestaltung des Herz-Symboles aus?

Dass der Wille die Beine im Stehen vereinheitlicht und nach unten wirkt, ist ja so offensichtlich, dass wir darüber nicht viele Worte verlieren müssen. Diese Tatsache drückt sich offensichtlich in der nach unten gerichteten einfachen Spitze des volkstümlichen Herz-Symboles aus. Dass diese Spitze hier etwas nach links abweicht, könnte damit zusammenhängen, dass wir zwar symmetrisch gebaute Beine haben, dass wir sie aber nicht durchwegs symmetrisch gebrauchen. Das macht sich beim Fußballspielen und auch beim Hochsprung sehr deutlich bemerkbar. Aber auch die Arme werden asymmetrisch gebraucht, sogar stärker als die Beine, also ist die leichte Abweichung der Herzspitze auch dieser Hinsicht überzeugend.

Der Wille des Menschen konzentriert sich also offenbar - symbolisch betrachtet- sehr stark auf das Stehen und Gehen, verlagert sich aber etwas stärker auf die rechte Körperseite, wie wir der leichten Linksabweichung der symbolischen Herzspitze  entnehmen können.

(hier mag der geneigte Leser eventuell mit einer leicht zu korrigierenden Verwirrung reagieren, denn natürlich ist am realen Körper des Menschen alles rechts, was an seinem symbolischen Spiegelbild links ist und umgekehrt).

Kommen wir nun auf die Repräsentation des Kopfsystems an der Oberseite des volkstümlichen Herz-Symbols zurück: welche seelischen Prozesse bilden sich hier ab?

Während wir beim Gehen und stehen unseren Willen ganz auf die Erde konzentrieren, die wir entweder mit unseren Füßen, unseren Verdauungsorganen oder mit unseren Händen und Werkzeugen traktieren, sind unsere Kopforgane (abgesehen von unseren Kauwerkzeugen) ganz durch die Vielfalt der Sinneswahrnehmungen und der Vorstellungen geprägt, die durch Sinneswahrnehmungen angeregt werden, und beinahe jeder unserer Gedanken ist im Unterschied zu den Nahrungsstoffen und Wegstrecken, die unser Gliedmaßen-Stoffwechselsystem zu bewältigen hat zunächst einmal nur hypothetisch. (Zum Beispiel: Dreht sich die Erde um die Sonne oder umgekehrt? Ist die Erde eine Kugel oder eine Scheibe? Ist das Geld, das wir bekommen, eine Fälschung oder echt? usw usf.) Im Kopf herrscht also die Vielfalt und die bloße Möglichkeit ist kaum zu unterscheiden von der realen Wirklichkeit. 

Nun denken wir ja aber normalerweise nur mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen - oder vielleicht doch nicht ausschließlich?

Wenn wir den symbolischen Bau des volkstümlichen Herzens nochmals betrachten, so scheint uns an dessen Kopfseite  eine Zweiheit vorgezeichnet zu sein, die im Kontrast zur Einheitlichkeit der Herzspitze Fragen aufwirft, auch dann noch, wenn diese untere Spitze etwas nach links abweicht.

Wofür steht diese Zweiheit an der Kopfseite des volkstümlichen Herzsymboles?

Wer sich schon ein wenig mit der Psychologie des Gefühlslebens beschäftigt hat, findet die Antwort auf diese Frage ganz leicht:

Es ist der Gegensatz von Sympathie und Antipathie, der unser Gefühlsleben  in zwei Hälften zerreißt und sich im volkstümlichen Herzsymbol an dessen Oberseite darstellt!

Nicht nur psychologisch, sondern auch physiologisch sind die hier angeführten Tatsachen des menschlichen Herzens schon seit längerer Zeit bekannt. So weiß man ja auch schon lange, dass die Herzfunktion eine gespaltene dadurch ist, dass das Herz im Sekundentakt zwischen zwei Extremen hin- und her tanzt. Naturwissenschaftlich nennt man diese beiden Extreme Systole und Diastole.

In der Systole zieht sich das Herz maximal zusammen, wird also etwa so wie der Kopf, der ja die ganze Welt und die ganze Vergangenheit in einer der Nussschale ähnlichen Kapsel  zusammenballt, und in der Diastole geht das Herz andererseits so sehr in die Streckung, dass man denkt, es wolle eine Gliedmaße werden. Und gerade diese Zweiheit der Herzzustände, der Systole und der Diastole, wird im volkstümlichen Herz-Symbol ebenfalls dargestellt, ohne die der Mensch weder leben noch denken könnte.

Wir nennen Menschen engherzig, bei denen die Antipathiegefühle dominieren und nennen die weitherzig, bei denen die Sympathiegefühle dominieren. Doch müssen die Gefühlsrichtungen im Gleichgewicht stehen, wenn Gesundheit herrschen soll. Bei Überhandnehmen der Antipathiegefühle besteht die Neigung zur Hypertonie und zum Herzinfarkt, bei Menschen mit einer zu großen Dominanz der Sympathiegefühle besteht die Neigung zum Ohnmachtsanfall, später zum Schlaganfall.

 

Wir sind nun tatsächlich einmal hindurchgekommen durch die zahllosen Wahrheiten, die das volkstümliche Herz-Symbol birgt.

Es hat sich gezeigt, dass dieses Symbol keineswegs so naiv ist, wie der erste Eindruck zu verraten scheint und wir müssen uns fragen: Was bedeutet das in erkenntnistheoretischer Hinsicht?

 

Aus anthroposophischer Sicht ist der Erkenntnisweg des Menschen ein dreifacher. Die unterste Erkenntnisstufe knüpft noch deutlich an das Vorstellen und an die Sinnesevidenz an und stellt sich in der eines Wahr-Bildes oder Sinn-Bildes (Symbolum) dar, weshalb sie die imaginative Erkenntnis genannt wird. Diese Art von Wahrheit haben wir anhand des volkstümlichen Bildes des Herzens kennengelernt. 

Eine nächst höhere Form der Erkenntnis ist die Inspirative Erkenntnis, die auch vereinfachend als Inspiration bezeichnet wird. Sie lernen wir kennen, wenn wir z.B. das Alte Testament aufschlagen und daraus entnehmen, dass der Mensch von Gott das Leben durch "Einhauchen" empfangen hat, sein Leben also das Ergebnis eines göttlichen Atemprozesses ist. Die höchste, dritte Erkenntnisstufe kann auf der Willensebene durch die individuelle Begegnung mit einem Geistwesen erreicht werden. Dementsprechend  bezeichnet man sie als  intuitive Erkenntnis oder vereinfacht als Intuition.